Eisiges Herz
drei Monaten ihre Selbstmordgedanken zunehmend verstärken und obwohl Catherine Sie drei-, viermal im Monat aufsucht, halten Sie es nicht für nötig, sie in die Klinik einzuweisen. Sie halten es nicht einmal für nötig, mit mir ein Gespräch zu führen. Ich bin ja schließlich nur ihr Ehemann, ich lebe erst seit Jahrzehnten mit ihr zusammen, warum sollten Sie sich die Mühe machen, mich zu informieren? Also sieht es für alle so aus, als würde es Catherine gut gehen. Sie dagegen wissen, dass sie vorhat, sich umzubringen, aber Sie ziehen es vor, nichts dagegen zu unternehmen.«
»Detective, Sie ziehen genau die Schlussfolgerungen, die ich befürchtet hatte. Ich bearbeite das Feld der Trauer undder Verzweiflung – mit Menschen, die an unerträglichen Depressionen leiden. Bedauerlicherweise haben diese Menschen häufig den Wunsch, ihrem Leben ein Ende zu setzen, und leider gelingt es einigen von ihnen. Das ist niemandes Schuld. Die Hinterbliebenen neigen in ihrer Verzweiflung häufig dazu, die Schuld beim behandelnden Psychiater zu suchen. In Ihrem Beruf kennen Sie das sicherlich auch. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass die Angehörigen von Perry Dorn der Polizei bittere Vorwürfe machen, weil ein Kollege von Ihnen den Selbstmord des jungen Mannes nicht verhindern konnte.«
»Der Unterschied ist, dass der Kollege alles versucht hat, um den Mann aufzuhalten.«
»Und ich habe alles versucht, um Ihrer Frau zu helfen.«
»Indem Sie es zugelassen haben, dass Sie einen Abschiedsbrief drei Monate lang mit sich herumträgt. Und eines Abends, mitten bei der Arbeit an einem interessanten Projekt, zieht sie ihn ganz spontan aus der Tasche und springt.«
»Hören Sie, Detective, ich beschäftige mich seit dreißig Jahren mit Depressionen, und glauben Sie mir, inzwischen wundert mich überhaupt nichts mehr. Das ist das Einzige, was man über diese Krankheit mit Sicherheit sagen kann: Sie sorgt für Überraschungen.«
»Ach, wirklich? Ich persönlich habe sie als auf grausame Weise vorhersehbar erlebt.«
»Verzeihen Sie, Detective, aber da irren Sie sich. Sie haben es ebenso wenig vorhergesehen wie ich. Und dass Catherine einen Abschiedsbrief benutzt hat, den sie schon vor Monaten geschrieben hatte, zeugt wahrscheinlich von Rücksichtnahme. Sie wollte Ihnen Zeilen hinterlassen, die sie geschrieben hatte, als sie bei klarem Verstand war, einen Brief, der ihre Gefühle weniger krass zum Ausdruck brachte als etwas, das sie in einem Moment äußerster Verzweiflung hingekritzelthätte. Wie Sie sicherlich wissen, sind Abschiedsbriefe in der Regel nicht von der Sorge um die Hinterbliebenen geprägt.«
»Ist es Ihnen überhaupt jemals in den Sinn gekommen, mich anzurufen, nachdem Catherine diesen Brief geschrieben hatte?«
»Nein. Catherine war vollkommen gelassen, als sie ihn mitgebracht hat. Wir haben ihn besprochen, wie wir zum Beispiel einen Traum oder eine Phantasie analysiert haben. Sie hat mir beteuert, dass sie nicht vorhatte, sich das Leben zu nehmen.«
»Das glaube ich. Ich hätte es sonst kommen sehen.«
»Sie gehen also immer noch davon aus, dass es eine andere Erklärung für ihren Tod geben könnte? Der Grund für Ihren Verdacht, dass es sich um Mord gehandelt haben könnte, waren die verletzenden Beileidskarten, die Sie mit der Post erhalten haben. Sie meinten, nur jemand, der Ihre Frau umgebracht hätte, wäre in der Lage, Ihnen solche Karten zu schicken. Dann, als Sie denjenigen ermittelt hatten, der die Karten geschrieben hat, stellte sich heraus, dass er kein Mörder ist. Ist das richtig? Oder habe ich irgendetwas ausgelassen?«
Ich stehe auf verlorenem Posten, dachte Cardinal. Der Psychoheini hat die Situation in der Hand: Ich habe keinen handfesten Beweis. Nichts.
»Sie war nicht verzweifelt an dem Tag, als sie gestorben ist«, war alles, was er herausbrachte. »Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass sie an Selbstmord dachte.«
»Im Lauf der Jahre hat es zahllose Anzeichen dafür gegeben. Ich kenne ihre Krankenakte, Detective. Catherine ist siebenmal in diese Klinik eingewiesen worden – einmal wegen eines Anfalls von Verfolgungswahn, aber jedes andere Mal wegen schwer zu behandelnder Depressionen. Und jedes Mal hatte sie nur noch den Wunsch zu sterben, jedes Mal glaubte sie, Selbstmord wäre der einzige Ausweg aus ihrer Misere. Mich wundert es überhaupt nicht, dass sie es getan hat,als sie bei relativ klarem Verstand war, als sie in der Lage war, diese Tat mit Vorbedacht zu planen und ordentlich
Weitere Kostenlose Bücher