Eisiges Herz
rote Backsteinbau verlor sich fast in der Pracht des Herbstlaubs. Ein kalter Wind wehte über den Hügel, und die Pappeln und Birken neigten ihre Köpfe wie Tänzer. Alle Erfahrungen, die Cardinal mit diesem Ort gemacht hatte, verschwammen zu einem einzigen Schmerz, all die Male, die Catherine hier eingewiesen worden war, weil sie Stimmen gehört hatte oder weil sie so deprimiert war, dass sie drauf und dran gewesen war, sich die Pulsadern aufzuschneiden.
Er fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock. Die Tür zu Dr. Bells Zimmer stand offen. Er saß auf seinem Schreibtischstuhl und schaute über den Parkplatz hinweg auf die Berge. Er saß so reglos da, dass er Cardinal an einen Hund erinnerte, der am Fenster sitzt und darauf wartet, dass sein Herrchen nach Hause kommt.
Er klopfte an – kräftig, um Bell aufzuschrecken – und genoss den Effekt. Bell zuckte zusammen und fuhr herum. Als er Cardinal sah, stand er auf.
»Detective. Treten Sie ein, nehmen Sie Platz.«
Cardinal stellte seine Aktentasche auf dem Boden ab und setzte sich.
»Sie haben richtig gelegen mit Ihrer Vermutung, was die Beileidskarten angeht«, sagte er. »Sie stammen nicht von einem Mörder.«
»Nein, das dachte ich mir.«
»Sie wurden mir von einem Mann geschickt, den ich vor ein paar Jahren wegen Betrugs ins Gefängnis gebracht habe.«
»Nun, das leuchtet mir ein. Betrug hat etwas Hinterlistiges, etwas Heimtückisches. Das passt zum Stil von jemandem, der anonyme Briefe schreibt. Hat der Mann seine Frau verloren, nachdem Sie ihn verhaftet hatten?«
»Ja. Auch da haben Sie richtig vermutet.«
»Aber wahrscheinlich nicht durch Selbstmord.«
»Nein. Aber wie kommen Sie darauf?«
»Weil – zumindest oberflächlich betrachtet – die Schande in solch einem Fall auf den Kriminellen selbst und nicht auf seine Familie zurückfällt. Es würde anders aussehen, wenn Sie den Mann wegen einer Vergewaltigungsserie eingesperrt hätten oder wegen rassistischer Gewalt, etwas, das die Ehefrau gewusst oder zumindest geahnt haben würde. Haben Sie sonst noch etwas für mich? War das der Grund für Ihren überraschenden Besuch? Kurz bevor Sie kamen, habe ich darüber nachgedacht, dass es doch sehr schmerzhaft für Sie sein muss, hierher zu kommen. All die Erinnerungen an Catherine, die hier wachgerufen werden.«
»Es spielt keine Rolle, wo ich mich aufhalte.«
Cardinal öffnete seine Aktentasche und nahm Catherines Abschiedsbrief heraus. Diesmal reichte er Bell die Kopie, die durch den Scanner gelaufen war. Sie befand sich in einer Plastikhülle, die Schrift hob sich geisterhaft weiß auf schwarzem Untergrund ab. Am Rand waren Catherines zierliche Fingerabdrücke zu erkennen und unten ein dicker Daumenabdruck.
Dr. Bell setzte sich eine kleine Lesebrille auf und betrachtete den Brief. »Hm, das haben Sie mir schon mal gezeigt. Wie ich sehe, ist es irgendwie behandelt worden.«
»Auch da haben Sie recht, Dr. Bell. Und der Daumenabdruck am unteren Rand stammt von Ihnen.«
Cardinal beobachtete Bells Gesicht, doch es war keine Reaktion zu erkennen. Aber natürlich war er Psychiater und darin geübt, seine Gefühle zu verbergen, während andere weinten und wehklagten.
Bell reichte ihm das Blatt zurück. »Ja. Catherine hat mir vor ein paar Monaten so einen Brief gezeigt.«
»Komisch, dass Sie nichts davon erwähnt haben, als ich Ihnen den Brief letzte Woche vorgelegt habe.«
Dr. Bell verzog das Gesicht, nahm seine Brille ab und rieb sich die Nasenwurzel. Ohne die dicken Brillengläser wirkte er seltsam verletzlich, wie ein Lemur bei Tageslicht.
»Tja, da bin ich wohl ganz schön ins Fettnäpfchen getreten, was? Tut mir leid, Detective. Ich gebe zu, dass ich nicht erpicht darauf war, Sie wissen zu lassen, dass ich diesen Brief kannte. Ich fürchtete, Sie würden daraus schließen, dass ich in irgendeiner Weise Ihrer Frau gegenüber nachlässig war, dass Catherine in einem Moment der Verzweiflung einen Abschiedsbrief geschrieben und ich das einfach ignoriert hatte.«
»Wie sollte ich denn wohl auf so etwas kommen?«, fragte Cardinal. »Schließlich ist es nur ein Abschiedsbrief. Schließlich war sie manisch-depressiv.«
»Also gut, jetzt sind Sie natürlich wütend …«
»Sie zeigt Ihnen sogar den Brief, hofft verzweifelt, dass Sie ihr die fixe Idee ausreden. Sie plaudern ein bisschen miteinander, und am Ende der Sitzung geben Sie ihr den Brief zurück.«
»Es ist leicht, es im Nachhinein so negativ darzustellen.«
»Und als sich in den folgenden
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