Eisiges Herz
sagen, was ich mir dauernd ansehe.«
»Sie haben es mir gesagt. Warum könnten Sie es diesen Leuten nicht sagen?«
»Das ist was anderes. Sie sind Therapeut. Sie unterliegen der Schweigepflicht. Bei diesen Gruppentreffen würden womöglich Leute auftauchen, die ich kenne. Ich würde sterben, wenn das rauskäme. Buchstäblich. Dann würde ich mich umbringen.«
»Nun, vielleicht sollten wir daran arbeiten, dass Sie nicht mehr so große Scham empfinden.«
»Aber es
ist
beschämend. Was ich tue, ist total beschämend.«
»Lassen Sie es mich zu Ende erklären. Bei allen Suchtkrankheiten kommt das Gefühl der Scham ins Spiel. Nehmen wir zum Beispiel die Heroinsucht. Der Süchtige hat beschlossen, das Heroin aufzugeben, aber er ist nervös, er ist angespannt. Schließlich geht er los, kauft sich ein bisschen Stoff und setzt sich einen Schuss. Es ist wie Magie. Alle Angst ist auf der Stelle verflogen. Heroin ist eine starke Droge. Aber die Wirkung lässt natürlich nach, und dann überkommt den Süchtigen die Scham darüber, dass er wieder schwach geworden ist. Er braucht etwas, um mit der Scham fertig zu werden – und was ist das Erste, was ihm in den Sinn kommt?«
»Noch mehr von der Droge.«
»Noch mehr von der Droge, genau. Und das ist einer der Gründe, warum diese Zwölf-Schritte-Programme ziemlich erfolgreich sind. In einem Raum voller Leute zu sitzen, die einen mit all seinen Schwächen akzeptieren, die dieselbe oder eine ähnliche Schwäche haben, hilft, einem die Scham zu nehmen. Es ist wirklich sehr bedauerlich, dass es hier in der Stadt keine solche Gruppe gibt, wie Sie sagten. Aber wirkönnten vielleicht ein paar Therapiestunden mit Ihrer Frau zusammen …«
Keswick reagiert sofort. »Niemals. Auf gar keinen Fall. Sie weiß nicht mal, dass ich zu Ihnen komme.«
»Aber Sie haben schon oft erwähnt, dass Sie und Ihre Frau eine tiefe Liebe verbindet. Ihre Frau würde doch sicherlich nicht aufhören, Sie zu lieben, nur weil sie von Ihrer kleinen Schwäche erfährt.«
»Sie würde mich verabscheuen. Sie würde mich auf der Stelle verlassen, und ich würde meine Kinder nie wieder zu sehen kriegen.«
»Sind Sie sich da ganz sicher?«
»Allerdings. Ich habe sie oft genug darüber reden hören. Sie wissen schon, wenn in der Zeitung oder im Fernsehen so eine Geschichte auftaucht über einen Lehrer oder einen Priester oder was weiß ich. Sie ist jedes Mal vollkommen angewidert und sagt Dinge wie: ›Solche Typen sollte man teeren und federn‹ oder ›Den Kerl sollte man kurzerhand kastrieren‹.«
Dr. Bell ist die Stimme der Vernunft. »Aber Priester und Lehrer sind für viele Kinder verantwortlich. Sie befinden sich in einer Vertrauensposition.«
»Hören Sie, ich arbeite bei der Stadtverwaltung. Glauben Sie im Ernst, meine Kollegen würden einen Lüstling wie mich in ihrer Mitte dulden? Einen, der süchtig nach Kinderpornos ist? Die würden mich anspucken. Und zwar buchstäblich. Ich würde innerhalb von fünf Sekunden auf der Straße stehen.«
»Wir haben über Ihre Frau gesprochen, nicht über Ihre Kollegen. Sie würden sich nur Ihrer Frau anvertrauen. Kann es nicht sein, dass sie in ihren Reaktionen auf die Geschichten, die Sie eben erwähnten, übertrieben hat? Es kommt häufig vor, dass jemand sagt: ›Den Kerl sollte man aufhängen.‹ Aber das bedeutet nicht unbedingt, dass man das ernst meint.«
»Mag sein, dass sie übertreibt. Meg hält mit ihren Gefühlen nicht hinter dem Berg. Sie mag vielleicht übertrieben haben, was die Bestrafungsmethoden angeht, das Kastrieren und so weiter, aber ihr Abscheu war echt. Ich konnte ihren Ekel aus jedem Wort heraushören. Wenn sie diese Art von Abscheu jemals für mich empfinden würde, damit könnte ich nicht leben. Dann würde ich lieber sterben, das schwöre ich Ihnen. Lieber würde ich sterben.«
Bell klickte auf Standbild, um das Entsetzen im Gesicht seines Patienten, seine absolute Hilflosigkeit noch ein wenig auszukosten, dann schaltete er den Recorder aus. Keswick hatte sich wie ein Lamm zur Schlachtbank führen lassen. Eigentlich war es ein bisschen zu leicht gewesen, um vollauf befriedigend zu sein. Andererseits hatte die Sache auch einen positiven Aspekt, fast so wie der Fatalismus der alten Griechen, etwas, das man anerkennen musste.
Schon wieder klingelte das Telefon. »Hallo, Melanie«, sagte Bell, ohne abzunehmen. »Sind wir ein bisschen verzweifelt? Können wir endlich zu einer Entscheidung kommen?«
»Dr. Bell, hier spricht noch mal
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