Eisiges Herz
Humor eher still war und er sich am liebsten selbst auf die Schippe nahm.
Aber heute legte sich Cardinals Anwesenheit wie eine dunk le Wolke über die Stimmung. Während sie auf Chouinard warteten, schwiegen alle vor sich hin und taten so, als wären sie damit beschäftigt, ihre Notizen durchzusehen oder irgendwelche Unterlagen zu sortieren. McLeod las die Sportseiten der
Toronto Sun
. Cardinal selbst saß einfach still da, seinen auf einer leeren Seite aufgeschlagenen Notizblock vorsich auf dem Tisch. Er tat Delorme leid, denn natürlich spürte er, wie sich seine Präsenz auf die anderen auswirkte.
Chouinard kam hereingerauscht, in der einen Hand eine riesige Tim-Hortons-Henkeltasse, in der anderen ein dünner Hefter. Wenn Haferbrei laufen und sprechen könnte, sagte Ian McLeod gern, dann würde er aussehen wie Daniel Chouinard. Der Detective Sergeant war langweilig, aber verlässlich, farblos, aber vernünftig, ernst, aber solide.
»Bleiben Sie sitzen«, sagte er. Das sagte er jedes Mal, aber natürlich stand sowieso nie jemand auf.
»Sehen Sie, das ist der Grund, warum ich davon träume, eines Tages zum Detective Sergeant befördert zu werden.« McLeod schnappte sich Chouinards dünnen Aktendeckel und hielt ihn hoch. »Wir schleppen alle zentnerschwere Aktentaschen mit uns rum und er bloß eine Speisekarte.«
»Das ist die natürliche Ordnung der Dinge«, sagte Chouinard. »Haben Sie noch nie von den von Gott gegebenen königlichen Vorrechten gehört?«
»An dem Tag muss ich gefehlt haben.«
»Dann woll’n wir mal.« Chouinard trank genüsslich einen großen Schluck Kaffee. Er schlug seinen Aktendeckel auf, der wie immer ein einzelnes beschriftetes Blatt enthielt. »Sergeant Delorme, Ladies first, berichten Sie uns doch kurz, was sich Neues über Ihr kleines Mädchen auf dem Boot ergeben hat.«
»Ich habe das Kajütboot gefunden, auf dem das Kind mindestens einmal missbraucht wurde. Das Boot liegt derzeit im Winterlager im Four-Mile-Hafen. Ich habe es mit Erlaubnis der Eigentümer durchsucht, aber den Ferriers bisher nichts über meine Erkenntnisse mitgeteilt. Das wenige, was von dem Mann auf den Fotos zu erkennen ist, reicht nicht aus, um Mr. Ferrier als Täter auszuschließen. Er hat außerdem eine blonde, dreizehnjährige Tochter, allerdings hatte ich noch keine Gelegenheit,mich mit dem Mädchen zu unterhalten. Die Tochter könnte möglicherweise das Opfer sein, das von einem Freund oder Bekannten der Familie missbraucht wird.«
»Wir haben also einen Tatort. Sie haben keine Vorkehrungen getroffen, den Tatort abzusichern?«
»Es ist schon Jahre her, dass die Fotos aufgenommen wurden – da war das Mädchen ungefähr elf –, und das Boot ist seitdem Wind und Wetter ausgesetzt und im Winter gewartet worden. Ich glaube nicht, dass wir auf dem Boot irgendetwas finden werden. Trotzdem würde ich vorschlagen, dass wir das Winterlager des Hafens bewachen lassen, um zu verhindern, dass sich jemand an dem Boot zu schaffen macht.«
»Kein Problem, das werde ich sofort veranlassen.«
Delorme öffnete einen Umschlag und entnahm ihm zwei weitere Fotos, die aus Toronto gekommen waren. Eins davon zeigte eine Szene auf dem Boot. Auf diesem Foto war das Mädchen angezogen und lächelte in die Kamera. Im Hintergrund war der Hügel zu sehen, von dem sie inzwischen wussten, dass es sich um den Hügel am Trout Lake handelte. Auf dem anderen Foto war das Mädchen wesentlich jünger und nackt. Die Kleine lag auf einem Teppich und lächelte auch diesmal in die Kamera. Im Hintergrund war ein blaues Sofa zu erkennen.
»Wir nehmen an, dass dieses Foto bei ihr zu Hause aufgenommen wurde«, sagte Delorme. »Das blaue Sofa ist auf mehreren der Fotos zu sehen.«
»Ist das der Highway 63 im Hintergrund?«, wollte Chouinard wissen.
»Ja. Die Kollegen in Toronto nehmen an, dass dieses Foto etwa zwei Jahre alt ist. Auch auf einigen der anderen ist das Mädchen im selben Alter zu sehen. Wir suchen also nach einem etwa dreizehnjährigen Mädchen mit blonden Haaren und grünen Augen.«
»Die Kollegen in Toronto gehen davon aus, dass das Foto zwei Jahre alt ist?«
Alle schauten Cardinal an. Delorme spürte die Erleichterung bei allen darüber, dass er sich zu Wort gemeldet hatte. Dass er etwas zu ihrem Fall gesagt hatte, etwas ganz Alltägliches. Jetzt war er wieder ihr Kollege und nicht der verwirrte, trauernde Witwer.
»Ich weiß nicht genau, worauf sie ihre Vermutung stützen«, sagte Delorme, »abgesehen von der Tatsache,
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