Eisiges Herz
Melanie. Ich weiß, Sie haben gesagt, dass Sie diese Woche nicht da sind, aber ich dachte, Sie würden vielleicht Ihren Anrufbeantworter abhören. Ich bin wirklich am Ende …«
Er hörte sie laut schniefen. Er stand auf, nahm die DVD aus dem Gerät und steckte sie in eine nummerierte Hülle.
»Bitte rufen Sie mich zurück, Dr. Bell. Ich kann gar nicht mehr klar denken. Ich glaube, ich sollte in die Klinik gehen. Wenn Sie mich einfach einweisen könnten. Ich hab mir tatsächlich Tabletten besorgt. Ich hab sie hier in meinem Zimmer, und es scheint mir die beste Lösung zu sein, aber ich weiß einfach nicht.«
Dr. Bell nahm eine CD aus dem Regal. Haydns Kantate»Christi letzte sieben Worte«:
Eli, Eli, warum hast du mich verlassen?
Ein Todeskampf unter Fesseln, Nägeln und Verlassensein.
»O Gott, ich halte das nicht mehr aus. Ich weiß gar nicht, warum ich noch lebe, ich weiß es wirklich nicht.« An den Geräuschen, die folgten, konnte man hören, dass sie Schwierigkeiten hatte, den Hörer aufzulegen.
Bell schaltete die Musik ein und lehnte sich auf dem Sofa zurück.
»Nimm endlich die Tabletten«, seufzte er. »Schluck einfach die Tabletten, Melanie. Dann werden wir uns alle besser fühlen.«
36
A ls Cardinal am nächsten Morgen aufwachte, raubte Catherines Abwesenheit ihm die Luft zum Atmen. Es war, als schwebte sein Schlafzimmer irgendwo im Weltraum, und jemand hätte die Luftschleuse geöffnet. Während er sein Frühstück bereitete – Toast und Kaffee – und Zeitung las –
The Globe and Mail
–, zwang er sich dazu, sich innerlich auf den vor ihm liegenden Tag einzustellen, sich an den Fall von Kinderpornographie zu erinnern, den Delorme bearbeitete, und an die Einbruchsserie, mit der Arsenault beschäftigt war.
Irgendwann blickte er von seiner Zeitung auf und starrte auf den leeren Platz auf der anderen Seite des Tischs.
»Ich will nicht an dich denken«, sagte er. »Ich will nicht an dich denken.«
Er versuchte weiterzulesen, konnte sich jedoch nicht konzentrieren. Seine Augen waren ganz wund nach der unruhigen Nacht. Je eher er seine Arbeit wieder aufnahm, umso besser. Er stellte seinen Teller in die Spülmaschine und goss seinen Kaffeerest in die Spüle, dann duschte er kurz, zog sich an und machte sich auf den Weg.
Es wurde allmählich kühler. Ein Geruch nach Winter lag in der Luft, man spürte schon das Eis, obwohl es noch etwa einen Monat dauern würde, bis der See zuzufrieren begann. Cardinal fror in seiner Sportjacke. Das nächste Mal würde er sich einen Wintermantel anziehen. Der Himmel war strahlend blau, und Cardinal musste daran denken, wie Catherine sich darüber gefreut hätte. Ihr PT Cruiser stand leer in der Einfahrt.
»Ich will nicht an dich denken«, sagte er noch einmal und stieg in seinen Camry.
Als er gerade zurücksetzen wollte, fuhr ein Wagen vor und blockierte seine Ausfahrt. Paul Arsenault kurbelte sein Fenster herunter und hob eine behandschuhte Hand zum Gruß.
»Morgen!«
Das konnte nur etwas Gutes bedeuten, dachte Cardinal. Arsenault würde niemals vor dem Dienst bei ihm vorbeikommen, wenn er nicht etwas ganz Besonderes für ihn hätte. Cardinal stieg aus seinem Wagen und trat an Arsenaults Fenster.
»Ich dachte, ich komm mal kurz vorbei, damit wir keine wertvolle Polizeizeit vergeuden.«
»Haben Sie was Interessantes?«
»Tja, ja und nein. Ich weiß nicht, wie Sie’s aufnehmen werden.«
»Sagen Sie’s mir einfach, Paul.«
»Ich hab’s schließlich von der Datenbank der Einwanderungsbehörde bekommen – und, nein, ich werde Ihnen nicht sagen, wie ich das geschafft hab. Wir haben einen Engländer, der vor ein paar Jahren hierhergezogen ist.« Er reichte Cardinal einen Computerausdruck durchs Fenster.
Auf dem Blatt waren zwei Daumenabdrücke zu sehen. Das Foto darüber war schmeichelhafter als normalerweise auf solchen Dokumenten. Mit dem lockigen Haar, dem graumelierten Bart und dem Hundeblick wirkte der Mann durchaus liebenswürdig. Dr. med. Frederick David Bell.
Als Cardinal auf dem Revier eintraf, rief er Bell an und vereinbarte für den Mittag ein Treffen mit ihm in der psychiatrischen Klinik.
Er fuhr über den Highway 11 aus der Stadt und bog in die vertraute Einfahrt zum Ontario Hospital ein. Cardinal war schon zahllose Male hier gewesen – dienstlich, weil hier häufig Kriminelle untergebracht waren, und privat, um Catherinezu besuchen. Meistens hatte sie den Februar hier verbracht, den düstersten, trostlosesten Monat des Jahres.
Der
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