Eisiges Herz
Natur aus nicht unbedingt eine lebhafte junge Frau, aber sie gab sich Mühe, ihn aufzumuntern, und das rührte ihn. Er hatte durchaus Augen für die Schönheit der Landschaft, aber beim Laufen schienen ihre Schritte im Takt mit den Worten
Catherine ist tot, Catherine ist tot
zu fallen.Cardinal fühlte sich zugleich hohl und unglaublich schwer – als wäre sein Herz durch einen Bleiklumpen ersetzt worden.
Noch vor ein paar Tagen hat Catherine dieselbe Landschaft bewundert. Catherine hat dieselbe frostige Luft eingeatmet
.
»Wann musst du wieder in New York sein?«, fragte er Kelly.
»Ich habe für nächste Woche Dienstag einen Flug gebucht.«
»Du brauchst nicht unbedingt so lange zu bleiben, weißt du. Du musst doch bestimmt wieder zurück.«
»Ist schon in Ordnung, Dad. Ich möchte gern noch ein bisschen bleiben.«
»Und heute? Hast du schon irgendwelche Pläne?«
»Ich hatte überlegt, mal bei Kim Delaney anzurufen, aber ich weiß es noch nicht. Erinnerst du dich an Kim?«
Cardinal erinnerte sich an ein großes, dralles, blondes Mädchen – wütend auf die Welt und sehr politisch. Kelly und Kim waren während der letzten Highschooljahre unzertrennlich gewesen.
»Ich hätte gedacht, Kim wäre inzwischen in die große, feindliche Welt hinausgezogen.«
»Ja, ich auch.«
»Du klingst traurig.« Cardinal schrammte aus Versehen eine Mülltonne. An dem Gartenzaun dahinter sprang ein Jack-Russell-Terrier auf und ab und versuchte, sie mit seinem Gebell einzuschüchtern.
»Na ja, sie war früher meine beste Freundin, und jetzt weiß ich nicht mal so recht, ob ich sie überhaupt anrufen soll«, sagte Kelly. »Kim war die beste Schülerin auf der Highschool – viel besser als ich –, Vorsitzende des Debattierclubs, Delegierte in der Junior-UNO, Redakteurin des Jahrbuchs. Und jetzt führt sie sich auf wie die Queen of Suburbia.«
»Nicht jeden zieht’s nach New York.«
»Ja, ich weiß. Aber Kim ist erst siebenundzwanzig, und sie hat schon drei Kinder und besitzt zwei –
zwei!
– Geländewagen.«
Cardinal zeigte auf die Einfahrt, an der sie gerade vorbeiliefen: ein Grand Cherokee, ein Wagoneer.
»Sie redet über nichts anderes als Sport. Ehrlich, ich glaube, ihr ganzes Leben dreht sich um Curling und Hockey und Ringette. Ein Wunder, dass sie noch keinem Bowlingclub beigetreten ist.«
»Wenn man Kinder hat, ändern sich die Prioritäten.«
»Also, ich will keine Kinder, wenn das bedeutet, dass man seinen Verstand an der Garderobe abgeben muss. Kim hat seit Jahren keine Zeitung mehr gelesen. Und im Fernsehen sieht sie sich nichts anderes an als
Survivor
und
Canadian Idol
und Hockey. Hockey! Als wir noch in der Schule waren, konnte sie Sport auf den Tod nicht ausstehen. Ehrlich, ich dachte, Kim und ich würden immer Freundinnen bleiben, aber jetzt weiß ich nicht mal, ob ich sie anrufen soll.«
»Ich mache dir einen Vorschlag. Hättest du Lust auf einen Ausflug nach Toronto?«
Kelly schaute ihn verblüfft an. Ein hauchdünner Schweiß-film hatte sich auf ihrer Oberlippe gebildet, und ihre Wangen waren gerötet. »Du fährst nach Toronto? Was willst du denn da?«
»Ich hab jemanden im Forensic Centre um einen Gefallen gebeten. Etwas, worum ich mich persönlich kümmern will.«
»Hat das was mit Mom zu tun?«
»Ja.«
Eine Weile war nur ihrer beider Atem zu hören – oder zumindest Cardinals.
Kelly schien gar nicht außer Atem zu sein. Die Water Road endete in einem Wendehammer. Sie verlangsamten ihr Tempo und liefen schließlich eine Zeitlang auf der Stelle. Jenseits derBungalows aus rotem Backstein mit ihren gepflegten Rasenflächen, an deren Rändern prall gefüllte Laubsäcke aufgereiht standen, leuchtete der See tiefblau.
»Dad«, sagte Kelly. »Mom hat sich das Leben genommen. Sie hat sich umgebracht, und das tut verdammt weh, aber wir wissen beide, dass sie manisch depressiv war, dass sie über die Jahre immer wieder in die Psychiatrie eingewiesen werden musste, und letztlich ist es verständlich, dass sie nicht mehr wollte.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Du weißt, dass das nichts mit dir zu tun hatte.«
»Kommst du mit?«
»Gott, du lässt dich nicht beirren, wenn du dir einmal was in den Kopf gesetzt hast, was?« Sie überlegte. »Also gut, ich komme mit. Aber nur, um dir auf der Fahrt Gesellschaft zu leisten.«
Cardinal zeigte auf einen Pfad, der sich durch den Wald schlängelte. »Lass uns den schönen Weg zurück nehmen.«
Während der Fahrt den Highway 11 hinunter in
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