Eisiges Herz
dem Briefkopf des Teufels vorlegte, würden die ihm sagen: ›Stell dich gefälligst hinten in der Schlange an, Alter.‹«
»Ich kann das nicht über die Zentrale machen, Tommy. Ich habe kein Aktenzeichen.«
»Ach du Scheiße …«
»Aber wenn du mir was Handfestes lieferst, bekomme ich ein Aktenzeichen. Und dann werde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen.«
Am anderen Ende der Leitung war ein tiefer Seufzer zu vernehmen. »Also gut, John. Mich könnte das hier echt in Schwierigkeiten bringen, aber ich mach’s.«
8
Ü belkeit war nicht das richtige Wort, um zu beschreiben, was Delorme empfand. Die Kollegen aus Toronto hatten ihr etwa zwanzig Fotos geschickt; das Päckchen hatte auf ihrem Schreibtisch gelegen, als sie aus der Mittagspause kam. Sie hatte sich die Bilder angesehen und wünschte, sie hätte es nicht getan. Die Fotos lösten eine Reaktion in ihren Eingeweiden aus, die ihr die Luft raubte, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube bekommen. Und dann setzten kompliziertere Empfindungen ein – Beklemmung, beinahe Panik und gleichzeitig das Gefühl, dass die Menschheit nicht mehr zu retten war.
Die Bürogeräusche um sie herum – das Fiepen und Ächzen des Kopierers, McLeod, der Sergeant Flower anbrüllte, das Klappern von Tastaturen und das Klingeln von Telefonen – nahm sie nur noch wie von fern wahr. Beinahe wäre sie in Tränen ausgebrochen, doch es gelang ihr, den Impuls zu unterdrücken. Es war ein ähnlicher Gefühlsaufruhr, wie er sie überkam, wenn sie Horrorberichte in der Zeitung las: über die Enthauptungen im Irak, über den Bürgerkrieg in Afrika, wo Soldaten ganze Dörfer plünderten, Frauen vergewaltigten, allen Männern die Hände abhackten und Kinder zwangen, andere Kinder zu töten, oder über die Massenmorde in Bosnien.
Natürlich waren die Szenen auf den Fotos nicht zu vergleichen mit Genozid oder Massenmord, aber sie lösten dasselbe in Delorme aus: Verzweiflung darüber, wie tief Menschen sinken konnten. Selbst in einem Kaff wie Algonquin Bay hörte man von solchen Fotos, aber bisher hatte Delorme noch nie welche gesehen. Im vergangenen Jahr hatte ein Angestellterder Stadtverwaltung wegen Besitzes von kinderpornographischem Material vor Gericht gestanden, ein Mann, der von seinen Angehörigen und Freunden offenbar geliebt und geschätzt wurde. Aber es war nicht Delormes Fall gewesen, und sie hatte die Beweismittel nie zu Gesicht bekommen. Der Mann hatte sich, nachdem er gegen eine Kaution freigelassen worden war, das Leben genommen – anscheinend aus Scham, obwohl er lediglich wegen des Besitzes von kinderpornographischem Bild- und Filmmaterial angeklagt worden war, und nicht etwa wegen der Herstellung und Verbreitung derartiger Fotos.
Die Bilder auf ihrem Schreibtisch, schoss es Delorme durch den Kopf, waren Fotos von Tatorten, so detailgenau, als hätten die Leute von der Spurensicherung sie aufgenommen. Der Täter hatte sie selbst angefertigt, während er sein Verbrechen beging. In dieser Hinsicht war die Produktion von Kinderpornographie einzigartig.
Auf einigen Fotos wirkte das Mädchen nicht älter als sieben oder acht, mit Babyspeck an Hals und Wangen, auf anderen eher wie dreizehn. Sie hatte ein hübsches, offenes Gesicht, hellblonde, schulterlange Haare, und ihre Augen waren von einem fast unnatürlichen Grün, das noch betont wurde von den Tränen, die aus ihnen quollen. Es gab Szenen in einem Schlafzimmer, auf einem Sofa, auf einem Boot, in einem Zelt, in einem Hotelzimmer. Auf einem Foto war ein Detail unscharf gemacht; eine Mütze oder ein Hut, den das Mädchen auf dem Kopf trug, war nur noch als ein blau-weißer Fleck zu erkennen.
Der Mann hatte peinlich darauf geachtet, dass sein Gesicht nie zu sehen war, sondern nur einzelne Körperteile abge bildet waren: ein haariger Arm, eine behaarte Brust, dünne Beine, eine sommersprossige Schulter, ein Hängearsch. Sein Penis, auf mehreren Fotos in Nahaufnahme zu bewundern, war sorot, als wäre die Haut verbrüht, aber ob das an der schlechten Farbqualität lag oder daran, dass das Organ wundgerieben war, ließ sich nicht erkennen. Delorme, weder prüde noch eine Männerhasserin, fand, dass es das Widerlichste war, was sie je gesehen hatte.
Dieser Mann war kein Mensch, dachte sie, er war nichts als belebtes Fleisch, das dem Labor eines Wahnsinnigen entsprungen war. Aber die erschütternde Wahrheit lautete natürlich, dass er ein Mensch
war
. Es konnte jeder x-beliebige Mann sein, ja, es konnte jemand
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