Eiskalt Ist Die Zaertlichkeit
Claire Gaffney Burns war die Letzte auf seiner Liste.
Schwester Burns schaute sich um. »Jetzt ist es gerade vergleichsweise ruhig. Wir können anfangen, aber vielleicht müssen wir ein paar Unterbrechungen in Kauf nehmen.«
Steven lächelte, und sie erwiderte sein Lächeln. »Ich verstehe vollkommen. Können Sie eine Pause machen, damit wir uns irgendwo hinsetzen können, oder müssen wir hier bleiben?«
Sie sah sich noch einmal um. »Die anderen Schwestern sind alle bei den Patienten, deshalb muss ich hier bleiben, auch wenn es der Himmel auf Erden für mich wäre, mich hinsetzen zu dürfen.«
»In Ordnung. Schwester Burns, Sie haben vor neun Jahren im Asheville General Hospital gearbeitet, nicht wahr?«
Sie war verblüfft. »Ja, tatsächlich. Warum fragen Sie?«
Steven neigte den Kopf zur Seite. »Warum hat meine Frage Sie so überrascht?«
Sie zuckte mit einer Schulter. »Weil ich seit fast vier Jahren hier arbeite, und niemand hat mich bisher danach gefragt. Jetzt sind Sie schon der zweite binnen einer Woche, der das wissen will.«
Steven kniff die Augen zusammen. »Wirklich? Wann war das?«
Schwester Burns brauchte nicht lange zu überlegen. »Donnerstagabend. Die Sanitäter hatten gerade die kleine Lindsey Daltry gebracht, die notoperiert werden musste.« Sie spitzte den Mund. »Ich weiß nicht mehr, wie dieser Mann hieß, aber er suchte jemanden, der mit mir zusammen im Asheville General gearbeitet hatte, damals im Sommer …« Sie riss die Augen auf. »Oh Gott. Im selben Sommer. Das ist kein Zufall mehr, oder?«
»Vielleicht nicht. Regen wir uns lieber nicht auf, bevor wir genauer wissen, worum es geht. Wie sah dieser Mann aus?« Er zog Stift und Notizblock aus der Jackentasche, bereit aufzuschreiben, was Schwester Burns zu seinen Fragen einfiel.
Wieder spitzte Schwester Burns die Lippen. »Er war groß und kräftig. Nicht dick, aber eben kräftig. Ein Körperbau wie ein Footballspieler.«
»So groß wie ich?«
Sie wiegte nachdenklich den Kopf. »Vielleicht einen Zentimeter größer, mehr nicht. Er hatte so breite Schultern.« Sie hielt die halb erhobenen Hände entsprechend weit auseinander, und Stevens Herz begann, schneller zu schlagen. Winters hatte so breite Schultern.
Steven hob den Blick von seinem Notizblock. »Schwarzes Haar, braune Augen?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, sein Haar war grau, und … und er trug einen Schnauzbart. Einen ziemlich buschigen. Kann sein, dass seine Augen braun waren. Tut mir Leid, ich habe nicht so genau darauf geachtet.«
»Schon gut«, beschwichtigte Steven. »Was genau wollte er wissen?«
»Er sagte … er sagte, seine Schwester hätte, als sie ihre kranke Großmutter im Asheville General besuchte, eine Krankenschwester kennen gelernt, und seine Schwester sei kürzlich gestorben, und er habe in ihrem Nachlass einen Brief an diese Krankenschwester gefunden. Er wollte ihn einfach nur abgeben. Ich habe mir weiter nichts dabei gedacht. Die Krankenschwester, nach der er forschte, war jung, vielleicht nicht mal Krankenschwester. Vielleicht eine Volontärin. Ich habe ihm erklärt, dass die einzige Volontärin, die wir in jenem Sommer hatten, Susan Crenshaw hieß. Sie wollte im Herbst aufs College gehen. Schon als Kind hatte sie Krankenschwester werden wollen.«
»War das die Frau, die er suchte?«
Schwester Burns schüttelte den Kopf. »Nein. Er suchte nach einer jungen Frau namens Christy, die in der Onkologie gearbeitet hatte.«
»An Susan Crenshaw scheinen Sie sich gut zu erinnern. Waren Sie mit ihr befreundet?«
Burns lächelte voller Zuneigung. »Susan hat sich mit jedem angefreundet, den sie kennen lernte. Alle Patienten hatten sie ins Herz geschlossen. Ich erinnere mich an eine Frau, die sich in jenem Sommer von einem Wirbelbruch erholte. Sie und Susan waren etwa im gleichen Alter. Sie haben immer zusammengehockt und geredet.«
Steven zog eine Braue hoch. »Erinnern Sie sich an den Namen dieser Patientin?«
»Oh ja. Sie hieß Mary Grace.« Wieder spitzte sie in äußerster Konzentration die Lippen. »Ihr Nachname war eine Jahreszeit. Ach, ja. Winters. Mary Grace Winters. Mary Grace redete kaum mit anderen Leuten. Sie war ein komisches kleines Ding.«
»Wieso?«
»Sie hatte solche Augen. Große, blaue Augen, die wirkten, als könnten sie einem in die Seele blicken. Und sie war immer so traurig. So heimgesucht, das ist wohl das treffendere Wort. Sie hatte einen kleinen Jungen, und der war ihr ganzes Glück.« Sie lächelte.
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