Eiskalt wie die Nacht: Thriller (Dicte Svendsen ermittelt) (German Edition)
Stinger war schon vor der Attacke ein dünner schlaksiger Typ gewesen, doch jetzt war er bis auf die Knochen abgemagert. Das dünne Haar verdeckte kaum die dunklen Adern, die sich über seinen Schädel zogen, und seine Arme lagen wie vertrocknete Äste auf der Decke. Seine Tattoos waren kaum noch zu erkennen, weil die Muskulatur sich abgebaut hatte.
Peter ergriff vorsichtig seine Hand und drückte sie.
»Stinger, alter Swinger.«
Es dauerte, aber dann erwiderte Stinger den Händedruck. Seine Augen suchten Peters Gesicht, der weiterredete, obwohl ihm ein Kloß den Hals zuschnüren wollte.
»Ich bin es, Petter. Ich bin hier bei dir.«
Stingers aufgesprungene Lippen bewegten sich, aber gaben den Versuch sofort wieder auf. Seine freie Hand klopfte hilflos auf die Bettdecke.
»Hier.«
Elisabeth reichte Peter einen Becher mit Wasser, in dem ein Stab stand, der am unteren Ende mit einem kleinen Schwamm versehen war. Er nahm den Stab und benetzte Stingers Lippen. Einige Tropfen liefen in seinen Mund und er schluckte sie unter großer Anstrengung.
»…etter.«
Seine Stimme klang trocken und dünn, wie aus einem Grab.
»…etter.«
»Ja, Stinger, ich bin hier.«
Peter drückte seine Hand und dieses Mal reagierte Stinger schneller und drückte fester. Vor Peters innerem Auge lief der Film ihrer Freundschaft ab. Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung, als er zusammengeschlagen, schutzlos und beinahe bewusstlos in der Gefängnisdusche gelegen hatte. Er erinnerte, dass Stinger die Wachen gerufen und ihn im Arm gehalten hatte und wie er später seinen Dank mit einer kleinen Handbewegung abgewinkt hatte. Eine Bewegung, die es als unbedeutend abtat, ein Menschenleben gerettet zu haben. Er erinnerte sich daran, wie viel Spaß er mit Stinger gehabt hatte, an seinen verschmitzten Blick, wenn er einen Trick gefunden hatte, mit dem er seine Lebensqualität im Gefängnis verbessern konnte. Seine Art, mit dem Wachpersonal umzugehen, und seine Großzügigkeit, vor allem auf Zigaretten und Alkohol bezogen, die er lieber mit anderen teilte, als alles für sich selbst zu behalten. Denn das war seine Lebenseinstellung: eine angenehme Gesellschaft war ihm tausendmal mehr wert als alle Genussmittel dieser Welt.
Stinger sah ihn aus farblosen Augen an und er versuchte sich aufzurichten. Peters Kloß im Hals wurde immer größer.
»…rian …«
»Brian?«
»…rian hat gesag…«
»Brian hat gesagt?«
Stinger konzentrierte sich, als würde seine ganze Kraft für die nächsten Worte benötigt werden.
»…rian hat gesagt, du würdest … Grimme. … das … plant.«
»Geplant? Hat Brian von Anfang an geplant, dass ich mir Grimme vornehmen soll?«
Stinger schien nicht zugehört zu haben. Er starrte in die Luft:
»…etter macht es.«
Stingers Kopf fiel zurück aufs Kissen. Seine Augen drehten sich zur Decke. Das Sprechen hatte ihn vollkommen ausgelaugt. Seine Brust hob und senkte sich kaum wahrnehmbar. Elisabeth schluchzte.
»Was ist los?«
»Hol den Arzt«, sagte Peter, aber er wusste, dass es zu spät war.
Der gute alte Stinger, der sich durch das Leben getanzt, gesungen und gemogelt hatte, hatte den letzten Tanz seines Lebens vollbracht. Elisabeth drückte den Schwesternknopf. Stinger holte noch einmal Luft und seufzte. Dann atmete er ein letztes Mal aus.
K APITEL 59
Die SMS von Peter war sehr kurz. Es sei ein Notfall eingetreten und er bat sie, auf ihn zu warten.
Sie hatte sich in einen der Ledersessel im Foyer gesetzt und überlegte, ob sie sich ernsthaft Sorgen machen sollte. Was war passiert? Es musste etwas sehr Wichtiges sein, das sich nicht aufschieben ließ. Aber vielleicht war seine Sorge auch ganz unbegründet. Sand hatte jetzt alle Informationen und die Position erhalten, was sich richtig und gut anfühlte.
Sie stand auf und lief unruhig in der Lobby auf und ab. Auf dem Parkplatz vor dem Gebäude war viel Bewegung und in regelmäßigen Abständen kamen Leute – hauptsächlich Männer, davon viele in Uniform – durch die Glastür, klopften ihre Stiefel ab und liefen mit Aktentaschen unter dem Arm die Treppe hoch.
Felix holte sich einen heißen Kakao aus dem Automaten. Eine halbe Stunde war schon verstrichen, wo war Peter bloß?
Sie blieb eine Weile vor einem abstrakten Gemälde stehen, auf dem die Farben zu explodieren schienen. Sie musste daran denken, wie ihre Welt aussah, als sie nach dem Absturz die Augen geöffnet hatte: alles in Weiß. Das Zimmer im Krankenhaus war weiß, die Wände, Decke,
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