Eiskalte Ekstase - ein Frankfurt-Thriller
zwingend persönlich durchführen wird? Lassen Sie mich doch bitte einmal sehen.«
Frau Lehnert-Meystein übergibt den Brief der ausgestreckten fahlen Hand. Und fixiert erneut die winzige Tätowierung.
»Wie ich’s mir dachte, genau wie ich’s mir dachte … Schauen Sie, sie hat zwar unterzeichnet, aber ansonsten ist das Schreiben im Hinblick auf die das Experiment durchführende Person doch recht vage formuliert. Vertrauen Sie mir. Ich arbeite mit Frau Jonathan bei ihren institutsbezogenen Projekten sehr eng zusammen und bin folglich auch was dieses Experiment betrifft entsprechend informiert. Und was die Bezahlung angeht …«
»Ach, lassen Sie nur«, Frau Lehnert-Meystein hebt abermals die Hände. »Darüber mache ich mir doch jetzt keine Gedanken. Ich habe ja noch gar nichts geleistet.«
»Nun, das wird schon in Kürze bestimmt ganz anders aussehen. Falls Sie mich nun begleiten wollen.«
»Aber bitte, gern.«
Frau Lehnert-Meystein tritt auf die Fußmatte, streift die Sohlen ihrer Schuhe gründlich ab und tritt ein. Durchschreitet langsam den Flur. Den Blick erst auf eine üppige Bodenvase mit einem noch üppigeren Kunstblumenstrauß gerichtet, dann auf die akkurat platzierten Damenpumps vor der kleinen Antikkommode. Sie schaut angestrengt zu Boden, damit sie beim Abstieg durch das kühle, nur mit einem Halogenstrahler beleuchtete Treppenhaus nicht stolpert. Unter ihren geschnürten Winterhalbschuhen spürt sie den weichen Teppich, dessen Farbe sie bei den Lichtverhältnissen nicht erkennen kann. Sie hört das Knirschen des Schlüssels in einem Türschloss. Und wird von gleißendem Licht geblendet, das aus dem jetzt offen stehenden Raum fällt.
»Nicht sehr gemütlich, ich weiß. Aber zweifellos notwendig für eine adäquate Aufzeichnung unserer Arbeit. Sie werden sich bestimmt rasch daran gewöhnt haben.«
Frau Lehnert-Meystein tritt über die Schwelle. Zögerlich. Sie zieht ihre dünnen, bereits ergrauten Augenbrauen zusammen, als sie das zugenagelte Fenster entdeckt.
»Ich verstehe, dass Ihnen das etwas ungewöhnlich vorkommen mag. Aber bedenken Sie, dass wir uns in einem Laboratorium befinden. Da gilt es, alle von außen kommenden und das Ergebnis möglicherweise verfälschende Störfaktoren auf ein absolutes Minimum zu reduzieren.«
Frau Lehnert-Meysteins Gesichtszüge werden wieder weich.
»Schauen Sie sich ruhig um. Von hier, aus dem Laborraum eins, werde ich die Aufnahmen steuern. Und zwar mit Hilfedes Laptops dort unten auf dem Boden, der mit dem sonstigen Equipment verbunden ist.«
Der Blick der Bibliothekarin folgt der fahlen Hand, die erst auf etliche Kabel deutet, dann hoch zu der beweglichen Kamera und schließlich auf das Gerät, das auf dem Tisch unterhalb der Kamera platziert ist.
»Das dort wird Ihr Arbeitsplatz während des Experiments sein. Aber dazu komme ich später. Zunächst darf ich Ihnen Ihren Co-Teilnehmer vorstellen, der bereits an seiner Wirkungsstätte verweilt. Vorab möchte ich Sie aber bitten, sich keinesfalls erneut von Ihrem ersten Eindruck irritieren zu lassen.«
Oder von deinem natürlichen Fluchtinstinkt. Dem jede gesunde Kreatur folgt. Wenn sie die Nähe des Jägers spürt.
Die Tür zum Nachbarraum geht auf. Unter dem erbärmlichen Quietschen der Scharniere. Frau Lehnert-Meystein macht ein paar Schritte auf die Tür zu, verharrt auf der Schwelle – und ihr Atem setzt aus. Leichter Schwindel umfängt sie, sie hat das Gefühl, soeben das Tor zu einer anderen Welt passiert zu haben. Einer dunklen Welt. In der ein brutal greller Scheinwerfer auf einen vielleicht siebzehnjährigen Jungen gerichtet ist. Umgeben von tiefster Schwärze sitzt er, bekleidet mit Jeans und dunkelgrünem Kapuzen-Sweatshirt, auf einem wuchtigen Stuhl. Hand- und Fußgelenke sind mit Ledergurten an den Armlehnen und den vorderen Stuhlbeinen festgeschnallt. Auf dem blonden Haarschopf ist ein dünner Schwamm fixiert, auf dem eine Elektrode befestigt ist, deren Kabel sich irgendwo in der undurchdringlichen Finsternis des Raumes verliert. Die großen hellen Augen des Jungen, sie leuchten wie zwei einsame Sterne. Seine noch kindlich roten Lippen versuchen ein Grinsen.
Frau Lehnert-Meystein schluckt. Hart.
»Wie bereits erwähnt, lassen Sie sich nicht von Ihren erstbesten Assoziationen leiten.«
»Kommt Omi nachher auch mal auf den Stuhl?«, will der Junge wissen. Er grinst.
Verdorben. Und verloren. Noch bevor das Vöglein richtig flügge wurde.
Die tätowierte Hand schießt in die Höhe,
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