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Eiskalte Hand

Eiskalte Hand

Titel: Eiskalte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Muther
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waren in der Hauptstadt nichts Ungewöhnliches. Modewellen und Zeitgeist machten sich auch in diesem Bereich bemerkbar. Da gehörte es für eine Weile dazu, in diesem oder jenem Viertel eine Wohnung, ein Haus oder auch eine kleine Villa zu besitzen. Jeder, der etwas auf sich hielt, legte sich hier einen Zweit- oder Drittwohnsitz zu. Die Grundstücks- und Immobilienpreise kletterten in astronomische Höhen, die ursprünglichen Bewohner wurden überwiegend herausgedrängt oder verdingten sich als Hauspersonal. Das ganze ging so lange, bis dann aus heiterem Himmel die Seifenblase platzte und ein anderer Stadtteil im Trend lag. So schnell, wie die Reichen und Schönen gekommen waren, verschwanden sie auch wieder. Die Gebäude standen leer und verkamen. Menschen am Rande der Gesellschaft und so manche zwielichtigen Gestalten siedelten sich an. Aus der Schickeria wurde ein Armenhaus. So hatte es sich wohl auch hier vorgetragen. Vor fünfundzwanzig Jahren muss dies eines der angesagtesten Viertel gewesen sein. Wenn man sich die Häuser genauer anschaute, konnte man noch erahnen, wie schön und prunkvoll es hier einmal ausgesehen haben musste.
     
    Die Menschen, die Mia unterwegs zu Gesicht bekam, machten ebenfalls keinen vertrauenserweckenden Eindruck. Argwöhnisch beäugten sie die Fremde, die da in ihrer Welt herumspazierte. Was will die hier? Die junge Frau hielt den Dolch, den sie im Ärmel versteckt hatte, jetzt noch ein wenig fester – auch wenn sie nicht wirklich mit einer Attacke rechnete. Denn die Leute hatten vermutlich mehr Angst vor ihr als sie vor ihnen. Vorsichtig schritt sie voran und suchte zwischen all den Ruinen und Barracken nach der Adresse, auf die sie im Archiv gestoßen war. Ohne Zwischenfälle erreichte sie ihr Ziel. Wie erwartet stand auf dem Grundstück kein Gebäude mehr. Nach dem Brand hatte man es offensichtlich nicht neu aufgebaut. Einzig einige Mauerreste waren von dem Haus übrig geblieben, und Mia bildete sich ein, darauf verwitterte Rußspuren erkennen zu können. Das gesamte Grundstück war stark verwildert und überwuchert. Wahrscheinlich hatten sich so manche kleine und größere Tiere in diesem Biotop angesiedelt.
     
    ‚Hier habe ich vielleicht die ersten beiden Jahre meines Lebens verbracht.‘ Gedankenverloren stand die junge Frau am Rande des Grundstücks und ließ die Atmosphäre des Ortes auf sich wirken. Sie versuchte sich vorzustellen, wie das Haus wohl ausgesehen haben könnte. Doch es fiel ihr schwer. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu dem zurück, was sie aus den Archiv-Unterlagen erfahren hatte. Es gab zahlreiche Spuren, die sie hätte verfolgen können. Warum sie sich gerade dafür entschieden hatte, als erstes hierher zu kommen, wusste sie selbst nicht so genau. Eigentlich war es keine allzu vielversprechende Spur, schon gar nicht nach so einer langen Zeit. Dennoch zog es sie hierher. Sehnsucht? Nostalgie? Neugier? Jetzt, wo sie tatsächlich da stand, hatte sie keine Ahnung, was sie weiter tun sollte. Langsam ließ sie ihren Blick schweifen. Vor dem Nachbargebäude entdeckte sie eine kleine rundliche Frau. Sie mochte vielleicht sechzig Jahre alt sein. Die Frau musterte sie ganz unverhohlen. Unwillkürlich starrte Mia zurück, suchte bewusst den Augenkontakt. Lange hielt die Frau diesem Blick nicht stand und richtete die Augen zu Boden. Mia wurde neugierig und ging auf die alte Frau zu. „Verzeiht mir!“, stammelte diese, als Mia sich ihr näherte, „Ich wollte nicht unhöflich sein.“ „Warum starrt ihr mich dann so an?“, erwiderte die junge Frau in einem kühlen Ton. Die alte Frau wurde ganz blass und duckte sich unwillkürlich zusammen. Mia entspannte sich ein wenig. Sie wollte der Alten nichts tun. „Nun?“, fragte sie etwas sanfter und lächelte sogar ein wenig. „Ihr“, erwiderte die Frau, „ihr erinnert mich an jemanden, den ich vor sehr langer Zeit gekannt habe. Ihr seht ihr so ähnlich. Wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich wollte euch wirklich nicht anstarren. Ich…“ Die alte Frau brach schluchzend in Tränen aus.
     
    Mia mochte es nicht, wenn Menschen weinten. Das fand sie unangenehm. Überhaupt widerstrebte es ihr, wenn Gefühle offen gezeigt wurden – abgesehen von Wut, Hass und Kampfeslust. Alles andere empfand sie als unnütze Sentimentalitäten, die nur den Blick für das Wesentliche verstellten und schon gar nicht in die Öffentlichkeit gehörten. So fühlte sie sich etwas deplatziert neben der Frau und wartete geduldig ab, bis sie sich

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