Eiskalte Hand
ältester Sohn des Patriarchen war er ausersehen, den Ruhm und das Ansehen der Familie zu mehren. Und offenbar befand er sich auf dem besten Weg dahin. Das belegten einige der Dokumente. Durch seine kluge und besonnene Art hatte er sich Aufmerksamkeit und Wohlwollen bei einflussreichen Personen erworben. So mancher sagte ihm eine große Karriere voraus. Natürlich rief dies auch Neider auf den Plan. Aber die hielten sich erfahrungsgemäß bedeckt. Keiner stellte sich offen gegen jemanden, der so beliebt war.
Wuan Kis junge Frau Pa Shi war beim Volk beliebt. Nicht nur, dass sie äußerst hübsch anzusehen war, sie besaß auch eine Ausstrahlung, die die Herzen der Menschen öffnete. Ihre karitative Ader tat ein Übriges hinzu. So manch einer selbst ernannten Wohltäterin des Volkes hatte sie schon den Rang abgelaufen. Sogar die Kaiserin hatte sie bereits eingeladen. Ein ungeheuerliches Privileg für eine Frau aus dem unteren Adel. Alles lief also bestens für das junge Paar. Doch dann geschah ein tragisches Unglück. Bei einem Hausbrand kamen Wuan Ki und Pa Shi ums Leben. Mit ihnen starb auch ihre einzige Tochter, die zweijährige Wu Jen. Mia musste schlucken. ‚Wu Jen‘ – dieser Name löste etwas in ihr aus. Etwas, das sie nicht so recht greifen und fassen konnte. Ihr wurde leicht schwindelig, als sich eine erneute Folge von Bildern mit Macht in ihren Geist drängte.
Es war dunkel. Sie war alleine. Angst. Wo seid ihr? Lasst mich nicht allein! Ein Flehen. Ein Rufen, ein kindliches Weinen. Da waren Schritte zu hören. Leise Sohlen auf dem steinernen Fußboden. „Schsch…“, machte eine Stimme. „Alles ist gut, Wu Jen. Schlaf, mein Kind. Ich passe auf dich auf.“ Eine Hand erschien aus dem Dunkel und streichelte ihren Kopf sanft. Die Angst verflog. Sicherheit. Wohlige Wärme breitete sich in ihr aus. Nun näherte sich ihr langsam ein Gesicht, das zu der Stimme gehörte. Stück für Stück. Ihr Atem stockte. „Mama…“, brachte sie leise hervor. Doch bevor sie das Gesicht erblicken konnte, verschwanden die Bilder.
„Mama…“ Mia blieb konsterniert zurück. So knapp, so flüchtig. Für einen Moment drehte sich alles um sie herum. Zum Glück saß sie bereits, ansonsten wäre sie womöglich noch umgefallen. Sie schüttelte sich. Solche Gefühle kannte sie nicht. Eine ganz neue Erfahrung. Ihr Gesicht glühte. Dann wischte sie die Erinnerungen mit einer demonstrativen Geste weg. „Reiß dich zusammen und konzentrier dich auf die Unterlagen! Für Sentimentalitäten ist jetzt keine Zeit.“, sagte sie leise zu sich selbst. Doch es brauchte noch einige tiefe Atemzüge, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte.
Was den Brand damals auslöste, so sagten es die Akten, konnte nicht ermittelt werden. Es wurde zwar viel gemunkelt, Gerüchte kursierten. Offiziell redete man aber von einem tragischen Unglücksfall. Für das Haus Lun bedeutete dies einen verheerenden Rückschlag. Keines der anderen Mitglieder hatte das Format eines Wuan Ki oder einer Pa Shi. Hinzu kam, dass auch andere Angehörige des Adelshauses zu der Zeit auf mysteriöse Weise ums Leben kamen. Eine Kette von Unglücksfällen. Offenbar waren die Götter der Familie nicht wohl gesonnen. Schließlich verlor sich ihre Spur. Selbst in der kleinen lokalen Politik spielten sie keine Rolle mehr.
„Intrige!“ Dieses eine Wort brachte all die Gedanken auf den Punkt, die Mia im Moment durch den Kopf gingen. Dabei handelte es sich nicht um eine Vermutung oder einen Verdacht. So, wie sie das Wort durch die Zähne presste, war es Gewissheit für sie. Jemand hatte vorsätzlich das Haus Lun eliminiert. Jemand ohne Skrupel, der sogar über Leichen ging. Mia ordnete die Informationen, die sie besaß, und betrachtete in Gedanken das Gesamtbild. Es besaß noch reichliche Lücken. Fragen taten sich auf. Was war genau geschehen am Tag des Brandes? Warum hatte sie selbst überlebt – wenn sie denn tatsächlich Wu Jen war? Und warum hatte ihr nie jemand davon erzählt? Vor allem aber: Wer steckte hinter all dem? Was bezweckte er? Und wie gelang es ihm, dass keine Nachforschungen angestellt worden waren?
Fragen über Fragen. Aber Fragen waren gut; denn man konnte ihnen nachgehen und auf dem Weg weitere Hinweise finden. Mias Gesicht glich für einen Moment dem eines Bluthundes, der eine Spur aufgenommen hatte. Und wer die junge Frau kannte, der wusste, dass sie niemals locker lassen würde, bevor sie ihr Ziel erreicht hatte. „Zieht euch warm
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