Eiskalte Hand
Lebensunterhalt. Woher er die Weidenruten für seine Arbeit nahm, war Mia ein Rätsel. Die Wasserhungrigen Pflanzen, konnten unmöglich in dieser Gegend überleben. Aber was wusste sie schon darüber. Zunächst wollte er nichts von Mias Fragen hören. „Das ist alles viel zu lange her. Ich erinnere mich an nichts mehr.“, versuchte er sie abzuwehren. Doch Mia zeigte, wie beharrlich sie sein konnte. Schließlich realisierte er, dass diese junge Frau keine andere war als das Kind seiner damaligen Herrschaften. Ein tiefer Blick in Mias dunkle Augen überzeugte ihn dann vollends. „Ihr seid es.“, sagte er nur, und das Eis war gebrochen.
„Sie kamen lautlos und völlig unerwartet.“, begann So Chi seinen Bericht. „Bevor irgendjemand etwas mitbekam, waren die meisten Wachen bereits ausgeschaltet. Ich selbst wachte durch den Schrei eines Hausmädchens auf. Im ganzen Haus herrschte ein gewaltiges Chaos. Schwarz gekleidete Gestalten töteten jeden, den sie erwischen konnten. Gedungene Mörder. Mit denen konnte ich es nicht aufnehmen. So versuchte ich, irgendwie zu entkommen. Immer wieder musste ich mich verstecken und mit ansehen, wie wehrlose Menschen einfach abgestochen wurden.“ Er stockte für einen Moment. Tränen liefen ihm aus den Augen. Dann fuhr er fort: „Schließlich landete ich im Kinderzimmer. Einer der Mörder beugte sich gerade über das Bettchen und wollte die kleine Wu Jen – euch – erstechen.“ Bei diesen Worten schaute er Mia lange ins Gesicht. „Das konnte ich nicht zulassen. Ein unschuldiges Kind! Jede Angst in mir war lahmgelegt. Ich griff nach einem Leuchter, der da herumstand und schleuderte ihn nach dem Attentäter. Offenbar hatten Götter ein Einsehen: Der Leuchter traf den Kerl am Kopf. Er ging zu Boden und stand nicht mehr auf. In meiner Panik habe ich dann das Kind an mich genommen und bin gerannt. Erst als ich schon viele hundert Meter vom Haus entfernt war, schaute ich zurück und sah das Feuer. Die Villa stand lichterloh in Flammen. Da rannte ich weiter.“
Erschöpft atmete So Chi tief durch. Mia spürte, wie sehr es ihm an die Substanz ging. Fast so, als hätte er den Kampf gerade noch einmal ausgefochten. Die junge Frau ließ ihn eine Weile gewähren, während er hastig einen tiefen Schluck Wasser trank. Sie wollte mehr wissen. Aber sie wusste auch, dass es einen Schritt nach dem anderen brauchte, um ans Ziel zu gelangen. Schließlich hatte der alte Mann sich ein wenig beruhigt. „Was ist dann geschehen?“, fragte Mia weiter, „Warum bin ich nicht bei euch geblieben?“ „Eigentlich wollte ich euch tatsächlich mit in mein Dorf nehmen. Meine Schwester hätte euch mit aufgezogen. Sie hatte ohnehin schon fünf Kinder. Da wäre eines mehr keine große Sache gewesen. Aber dann tauchte plötzlich dieser Mann auf. Ich weiß nicht, wie er mich gefunden und woher er seine Informationen über die Ereignisse jener Nacht und über eure Person hatte. Aber er machte nicht den Eindruck, dass er zu denen gehörte, die eure Eltern und all die anderen auf dem Gewissen haben. Er wollte euch mitnehmen und versprach mir, dass euch nichts geschehen würde. Welche Wahl hatte ich schon, als ihm zu glauben. Hätte ich mich geweigert, dann hätte er euch mit Gewalt mitgenommen. Also übergab ich euch an ihn. Er ermahnte mich, niemals über das zu sprechen, was ich erlebt hatte. Im Gegenzug entlohnte er mich und versprach mir, dass ich sicher und unbehelligt bleiben würde.“
Mia schaute den Mann eine Weile lang an. „Ich verstehe. Ihr habt ganz sicher nichts Falsches getan. Im Gegenteil, ich verdanke euch mein Leben. Dafür stehe ich auf ewig in eurer Schuld.“ Sie nickte ihm langsam zu und lächelte. Dann fuhr sie fort: „Könnt ihr mir sagen, wer der Mann war oder wie er aussah?“ So Chi schüttelte mit dem Kopf. „Ich konnte ihn kaum richtig sehen. Es war dunkel und ich hatte furchtbare Angst. Ich weiß nur noch, dass er einen Schnurrbart trug. Aber das trifft wohl auf viele Männer zu. Es tut mir leid, dass ich euch da nicht weiterhelfen kann.“ Beschämt blickte er zu Boden. Er hätte wirklich gerne mehr geholfen. Gerade wollte Mia aufstehen und sich von So Chi verabschieden, da fiel ihm noch etwas ein. „Wartet,“, sagte er, „in der Decke, in die ihr eingehüllt wart in jener Nacht, habe ich zwei Dinge gefunden, die ich als Erinnerung behalten habe. Einen kleinen Moment bitte…“ Als hätte er neuen Schwung erhalten, sprang er von seinem Stuhl auf und ging ins
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