Eiskalte Hand
nahm einen breiten Raum in der Ausbildung ein. Disziplin, Härte, Selbstverleugnung waren wesentliche Grundprinzipien.
Mia kannte das alles bestens. Den Großteil ihrer Kindheit und Jugend hatte sie in solch einem Kloster verbracht. Ihre frühesten Erinnerungen standen in Verbindung mit Bantru Vaksha – abgesehen von den Erinnerungsfetzen, die sie in letzter Zeit immer wieder heimsuchten. Die junge Frau hatte dem Orden viel zu verdanken. Sie fand hier ein Zuhause, bekam eine Ausbildung, die sie körperlich, geistig und letztlich auch in Hinblick auf ihre menschliche Reife geprägt und vorangebracht hatte. Dennoch wollte sie dem Pfad nicht ihr Leben lang folgen. Zu einem Mönch hatte sie einmal gesagt: „Ich will keine Göttin werden.“ Und das beschrieb genau ihre Einstellung. Sie wollte Dinge erleben, etwas von der Welt sehen; wollte nicht immer gut sein, sondern auch mal böse. Und so brach sie irgendwann aus der Gemeinschaft aus und verpflichtete sich bei der Armee. Auch eine wichtige Zeit für sie. Trotzdem hatte sich der Pfad des Drachens tief in ihr Innerstes eingebrannt. Er war ein Teil ihres Lebens. Und eben der kam jetzt wieder hoch.
„Guten Abend.“, sagte der Novize zu ihr, der die Pforte öffnete. Er trug die traditionelle purpurfarbene Tracht, in die alle Mönche – auch die angehenden – sich kleideten. Auf schmückendes Beiwerk legte hier niemand Wert. Alles war schlicht und einfach. Ein Strick hielt das Gewand an der Hüfte zusammen. Mia verneigte sie artig. „Möge der Drache euch erleuchten.“, brachte sie dem Jungen den bekannten Gruß entgegen, den sie jahrelang so oft gesagt und gehört hatte. Ihr Gegenüber zeigte sich freudig überrascht und verneigte sich ebenfalls. „Auch euch möge der Pfad des Drachens Erleuchtung bringen.“, erwiderte er. Dann fügte er hinzu: „Tretet ein mit Frieden.“ Mit jedem Schritt, den Mia jetzt tat, tauchte sie in eine andere Welt ein: die Welt ihrer Kindheit. Zahllose Erinnerungen strömten auf sie ein. Personen, denen sie begegnet war und denen sie teilweise viel zu verdanken hatte. Szenen aus dem Alltag im Klosterleben, Trainingsstunden mit Erfolgen, aber auch Misserfolgen. Sie musste kurz stehen bleiben und das alles auf sich wirken lassen. Langsam ließ sie dabei die Blicke kreisen.
Das Kloster war aufgebaut wie die meisten anderen auch. Mehrere Gebäude waren zu einem Rechteck angeordnet und umschlossen einen Hof. Hier spielte sich für gewöhnlich ein wesentlicher Teil des Trainings und des gesellschaftlichen Lebens ab, wenn man es denn so nennen durfte. In den Gebäuden waren Ess-, Lager- und Schlafräume untergebracht. Im Hof tummelten sich rund zwanzig junge Schüler im Alter von vielleicht sechs bis zehn Jahren. Ein Mönch zeigte ihnen, wie sie mit Hilfe eines einfachen Stabes akrobatische Übungen vollführen konnten. ‚Trainiere dein äußeres und inneres Gleichgewicht! So bleibst du auf dem Pfad.‘, schoss es Mia durch den Kopf. In einem anderen Teil des Hofes saßen einige ältere Novizen im Kreis und hörten zu, wie ihr Meister aus alten Schriften vorlas. Das quandalische Mantra, dass Wissen Macht sei, spiegelte sich auch im Kloster wieder: Bildung wurde groß geschrieben.
Der Novize führte Mia direkt in ein gegenüber liegendes Gebäude. In der kleinen Eingangshalle plätscherte ein Springbrunnen vor sich hin. Vor einer Tür auf der gegenüberliegenden Seite blieben sie stehen. Nach einem Klopfen wurden sie hereingebeten und betraten ein spartanisch eingerichtetes Büro. Hinter einem einfachen Stehpult stand ein drahtiger Mönch, der weit jenseits der fünfzig war. Vielleicht sogar noch älter. Aber eine gewisse Zeitlosigkeit machte es schwer, das Alter konkret zu bestimmen. Ein dünner Oberlippenbart und ein langer grauer Zopf waren die einzigen Haare auf dem ansonsten glattrasierten Kopf. Freundlich lächelte er Mia an und deutete auf eine Ecke mit Sitzkissen, die auf dem Boden platziert waren. „Nimm Platz, Schwester!“ Die junge Frau verneigte sich und ging zu den Sitzkissen hinüber. Innerlich musste sie grinsen, ließ sich davon aber nichts anmerken. Einem wahren Meister machte niemand so schnell etwas vor. Nachdem der Mönch noch ein paar Sätze in ein großes Buch geschrieben hatte, setzte er sich zu ihr. „Mein Name ist Sotama. Ich leite dieses Kloster. Was führt dich zu uns?“, eröffnete er das Gespräch. Mia stellte sich vor und erzählte von den Erlebnissen der letzten Zeit. Dabei achtete sie
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