EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
gesehen.“
„Geh nur. Ich schaue mich hier noch etwas um“, entgegnete er.
Er spürte, dass in diesen Räumen ein abgründiges Geheimnis auf ihn lauerte.
Als er den Fundort der Leiche verließ, musste er sich eingestehen, dass ihn der Gestank beinahe aus der Fassung gebracht hätte. Draußen vor dem Haus atmete er tief durch, froh, endlich wieder an der frischen Luft zu sein. Er streifte den Schutzanzug ab und reichte ihn einem Kriminaltechniker. Dann schlüpfte er in die Schuhe, die er auf der anderen Seite der Plastikabsperrung hatte stehen lassen. Im Garten suchten inzwischen Beamte der Spurensicherung in weißen Gummianzügen den Rasen Zentimeter für Zentimeter ab. Hinter dem Absperrband standen immer noch Schaulustige und fragten sich, was die Beamten in dem Haus vorgefunden hatten. Auch die Presse war schon da und wartete ungeduldig auf Informationen.
Hirschau drehte sich eine Zigarette und schlenderte zu einigen Beamten hinüber, die neben dem Einsatzwagen der Spurensicherung standen. Er zündete die Zigarette an, da fiel sein Blick auf ein kleines Messer, das ein junger Kriminaltechniker in der Hand hielt.
„Was gefunden?“
„Das hier haben wir drüben im Garten entdeckt, vielleicht fünf Meter hinter dem Haus.“
Hirschau musterte das kleine Skalpell, das kaum länger als sein Zeigefinger war.
„Bei dieser Beleuchtung werden wir kaum noch was Brauchbares finden“, sagte der Beamte emsig.
„Verwahren Sie das Skalpell in einer luftdichten, sterilen Plastiktüte“, ordnete Hirschau an.
„Wie bitte? Ich kenne die Vorschriften, Herr Hirschau.“
„Das hoffe ich. Dann haben Sie bestimmt gesehen, dass noch Blut daran klebt. Das Opfer wurde bestialisch zugerichtet. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat der Mörder es mit diesem Skalpell getan.“
Der Kollege schaute ihn entsetzt an, drehte sich um und übergab sich auf den Rasen.
Na fabelhaft, dachte Hirschau. Schon wieder ein Grünschnabel, der die Welt verbessern will und bereits beim Anblick einer möglichen Tatwaffe zusammenbricht.
Er wandte sich ab und schaute sich das Haus genauer an. Grelles Scheinwerferlicht erleuchtete den abgesperrten Garten. Irgendjemand muss vor kurzem hier gewesen sein, dachte er, als er die Fußspuren auf der Schlafzimmerseite des Opfers sah. Sie waren höchstens ein bis zwei Tage alt. Stammten sie vielleicht vom Täter? Er gab seinem Kollegen den Auftrag, einen Gipsabdruck zu nehmen.
Er wollte sich gar nicht so genau vorstellen, was diese Frau durchgemacht hatte. Kannte sie ihren Mörder? Hatte sie ihn ins Haus gelassen? An ihren Armen hatte er kleine Einstiche, möglicherweise von einer Nadel, entdeckt. Vielleicht hatte der Mörder sie betäubt. Und wo war ihre rechte Hand? Was hatte der Täter damit gemacht?
Mittlerweile war es drei Uhr morgens, und er entschied sich, den Tatort zu verlassen und zur Dienststelle zu fahren. Vielleicht wusste man schon Näheres über die Tote.
Eines jedoch war ihm schon jetzt ganz klar: Sie hatten es hier mit einem gefährlichen Psychopathen zu tun. Davon zeugte seine Botschaft an der Schlafzimmerwand:
Ich bin die Sehnsucht, ein Prinz, und schön wie die Liebe .
Kapitel 6
Mirja Wendel liebte es, auf der Veranda ihres neuen Zuhauses ihren Gedanken freien Lauf zu lassen und den Duft der Rosen einzuatmen. Er erinnerte sie an den Vorgarten ihrer Mutter und an den warmen, weichen Körper, an den sie sich in ihrer Kindheit abends immer geschmiegt hatte.
Sie liebte ihr kleines, unmittelbar am Rand des Nachbardorfs gelegenes Haus. Von der Straße aus verwehrte eine hohe Hecke Spaziergängern den Einblick, doch wenn sie durch das schmiedeeiserne Tor blickte, empfing sie links und rechts der breiten Auffahrt die Farbenvielfalt blühender Rosenranken, deren betörender Duft sie im Vorbeigehen immer wieder aufs Neue entzückte.
Schon damals, als Ben sie seinem Vater vorgestellt und ihr das alte Haus aus Bruchstein gezeigt hatte, war sie angetan von der gemütlichen Atmosphäre gewesen, und schon damals hatte sie gewusst, dass die Holzveranda ihr Lieblingsplatz werden würde. Hier hatte sie sich mit Bens Vater über die Besonderheiten seiner Rosen unterhalten, und hier hatte Ben sie zum ersten Mal geküsst und sie gebeten, seine Frau zu werden. Bens Vater war krank geworden und hatte das Haus in seinen letzten Lebensjahren vernachlässigt. Als sie nach seinem Tod vor drei Monaten eingezogen waren, blätterte bereits die Farbe von den Türen und Fensterbänken. Auch die Tapeten
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