EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
Narkosemittel. Man nennt diese Kombination Hellabrunner Mischung. Sie wird zur Immobilisation von Tieren eingesetzt.“
„Von Tieren?“
„Ja, zum Beispiel in einem Wildgatter, wenn ein Tier ruhiggestellt werden soll. Da benutzt man ein Gewehr mit Spritze, um es zu lähmen. Der Mörder wollte sein Opfer gefügig machen. Zuerst werden sämtliche Empfindungen wie Schmerz, Leeregefühl, Sorgen, Unwille, Angstgefühle kurzfristig blockiert und zugedeckt, danach setzen Halluzinationen ein, Persönlichkeitsverlust, Sinnestäuschungen, Auflösung der Raum-Zeit-Beziehung und das Gefühl, vom Körper losgelöst zu sein. Die positiven wie auch negativen Gefühle werden verstärkt. Das wollte der Täter erreichen.“
„Julia Jahnke sollte durch die Verabreichung dieser Mischung ihre Qual noch intensiver wahrnehmen, richtig?“
„Exakt. Durch die Gabe dieser Substanzen werden Töne gefühlt und Farben geschmeckt. Es kommt zu lebhaften Traumbildern oder alptraumhaften Szenen wie Nahtoderlebnissen und Tunnelvisionen.“
„Unterliegen diese Substanzen eigentlich nicht dem Betäubungsmittelgesetz?“
„Schon, aber für einen Jäger mit einem Gehege dürfte es kein Problem sein, sie zu beschaffen. Er hat Julias Kehlkopf mit einem Ausbeiner entfernt, besser noch: ausgelöst. Diese Technik wenden auch Jäger an. Dazu die Hellabrunner Mischung . Das spricht eindeutig für einen Täter mit Jagderfahrung.“
„Du bist genial! Das bringt uns mit Sicherheit weiter.“ Er zögerte, dann sah er Kauder direkt ins Gesicht. „Darf ich dich mal was anderes fragen?“
Der Ton ließ Kauder aufhorchen. „Nur los.“
„Wie ist das eigentlich, Autopsien machst du ja ständig, aber so eine wie diese hier – setzt die dir nicht auch ein bisschen zu? Kannst du danach nach Hause gehen und mit deiner Frau in Ruhe ein Glas Rotwein trinken?“
„Du bist nicht der Erste, der mich das fragt. Weißt du, es ist so: Ich darf die Grenze zwischen Privatem und Beruflichem nicht überschreiten, sonst habe ich ein Problem. Ich würde es zum Beispiel ablehnen, einen Freund von mir zu obduzieren, oder jemanden, den ich gut kenne. Ich wäre befangen. Für jeden, der nicht abgestumpft ist, ist das ein Problem, und ich würde mich nicht als abgestumpft bezeichnen. Doch man darf die Gefühle nicht an sich heranlassen, ganz besonders nicht, wenn ich das Resultat einer ausgelebten Perversion auf meinem Seziertisch vorfinde. Der Täter hat diese Frau erwürgt, während sie alptraumhafte Visionen durchlebte. Und nach ihrem Tod hat er sie geschändet und verstümmelt. Das ist grauenhaft, Robert. Ich glaube, du hast es mit einem gefährlichen Menschen zu tun. Pass bloß auf dich auf und lass das nicht zu nah an dich heran, das ist mein Rat.“
Hirschau nickte. „Du hast recht. Aber wenn ich daran denke, dass dieser Psychopath da draußen frei rumläuft und vielleicht schon sein nächstes Opfer im Visier hat, dann wird mir ganz anders.“ Er hielt dem Doc die Hand hin. „Für heute vielen Dank. Wann bekomme ich den endgültigen Bericht?“
Kauder klopfte ihm auf die Schulter. „Okay. Morgen.“
„Danke. Ich werd dir einen ausgeben“, sagte Hirschau und machte sich auf den Weg ins Polizeipräsidium.
***
Das Bild der tiefgelben Leiche Julia Jahnkes auf dem Autopsietisch verfolgte ihn den ganzen Tag. Im weißlichen Neonlicht wirkten das zertrümmerte Gesicht, der zerschnittene Hals, die Finger der linken Hand mit den zartblau lackierten Nägeln und die Scham realer als in der Nacht, in der sie gefunden wurde.
Als er sich duschte und rasierte, wusste er, dass er nicht schlafen würde. Es war bislang sein schwierigster Fall. Am Tatort fehlten Spuren, und die Tatsache, dass es keine Zeugen gab, erschwerte die Recherchen wesentlich. Er trocknete sich das Haar und schüttelte das Wasser aus den Ohren. Hör auf, jetzt daran zu denken, sagte er sich. Hör auf und mach dich nicht verrückt. Statt sich hinzulegen, ging er sein Gespräch mit Andreas Heimbach, dem Kriminalpsychologen, in Gedanken noch einmal durch.
Von Heimbach wurde behauptet, er versuche, den Drang zu morden in sich selbst zu entdecken, um damit die Psychopathen in ihrer Wahnwelt einzukreisen.
Hirschau hielt eine gewisse Distanz zu ihm. Obwohl Heimbach ihn konsequent mit seinem Spitznamen Hamlet ansprach, siezte er ihn, und auch Hirschau verzichtete auf das Du. Das war in dieser Branche sehr ungewöhnlich, jedenfalls unter gleichrangigen Kollegen. Heimbach wirkte stets konzentriert, er war
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