EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
sah, erkannte er, dass das gar nicht Anna war.
Als die Frau die Augen öffnete und ihn ansah, verließ er instinktiv das Zimmer. Auf dem Gang drehte er sich noch einmal um und warf einen Blick auf die Zimmertür. Nummer neun . Es war nicht Annas Zimmer. Er hatte sich in der Tür geirrt.
Hinter der Glastür bewegte sich eine schemenhafte Gestalt: eine Schwester, die den Tropf wechselte.
Er ging ins richtige Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.
Anna schlief zwischen Schläuchen und Überwachungsmonitoren. Er zog die Vorhänge um das Bett zu, stellte sich neben sie, stützte sich mit beiden Fäusten auf die Matratze und beugte sich so tief herab, bis sich sein Mund direkt neben ihrem Ohr befand.
***
Ihr erschöpfter Geist schwebte über dem Bett. Müde erkannte sie ihren bandagierten Brustkorb und ihr in einer Schiene aus Stahl steckendes rechtes Bein.
War es ein Freund, der da an ihrem Bett stand und sie betrachtete?
Der Mann lächelte. Er sagte, er sei die Sehnsucht, ihr Prinz, sein Name sei die Liebe. Seine Augen hinter dem Mundschutz waren schön. Sie sehnte sich nach seiner Umarmung und wünschte sich so sehr, dass er sie von diesem Ort fortbrächte. Hatte er sie nicht schon in der Vergangenheit umarmt?
Schemenhaft blendeten sich die Umrisse von Max und Mathilda ein. Mathilda bewegte ihre Lippen und lächelte, doch wie man einen Stein ins Wasser wirft, löste sich ihr Gesicht in den fortkreisenden Wellen auf, bis – als das Wasser spiegelglatt gestrichen war – unter der Oberfläche Katharinas blasses Antlitz emporschimmerte. Das Antlitz einer Wasserleiche. Jemand streichelte ihr Gesicht. War es die Hand des Prinzen? Er beugte sich zu ihr herab und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Wo war sie? Seine Worte lösten einen Schmerz aus, einen stechenden, bohrenden Schmerz, an dem sie zu ersticken drohte. Sie hörte Schreie. War das ein Traum oder nicht? Eine Nadel durchbohrte ihre Haut, und die Flüssigkeit, die durch ihre Venen floss, wärmte ihren Körper. Ihre Augenlider wurden schwer. Max stand vor ihr, nahm ihre Hand, führte sie auf die Tanzfläche und schenkte ihr sein Lächeln, das sie so sehr liebte. Max, ja, Max war ihr Prinz, wie konnte sie’s vergessen? Doch er entschwand, wie auch der Boden unter ihr. Sie fuhr hinunter in die Dunkelheit, hinunter in die dunkle tiefe Stille. Eine riesige Fratze, die sie zu erdrücken drohte, tauchte auf. Ihr schlechter Atem streifte ihr Gesicht. In der Ferne hörte sie den lauten Signalton eines Zuges.
Annas Augenlider fingen an zu zucken. Auf einem der Monitore über dem Bett spielte die EEG-Kurve plötzlich verrückt.
Jakob lachte. Mit seiner geisterhaft durchlässigen Hand beträufelte er ihre Hand mit Capim Limão . Grabeskälte berührte ihre Seele. Diese Berührung war der dritte Ritus.
Er hörte, wie in einem Schwesternzimmer eine Alarmglocke schrillte. Es wurde Zeit zu verschwinden.
Kapitel 28
Am nächsten Abend war Mathilda ins Krankenhaus gefahren, in der Vorfreude, Benedikt van Cleef wiederzusehen. Er begrüßte sie herzlich, als sie aus der Intensivstation kam, und sie errötete, als er mit sanfter Stimme fragte: „Wie geht es Ihrer Freundin?“
„Sie reagiert. Das ist ein gutes Zeichen. Die EEG-Ausschläge werden immer heftiger.“
Van Cleef schaute sie nachdenklich an. „Sie sehen mitgenommen aus. Wir können uns auch in der Cafeteria unterhalten, einen Kaffee trinken und eine Kleinigkeit essen. Dort ist es etwas behaglicher. Darf ich Sie zu diesem feudalen Essen einladen?“
Wortlos stimmte sie zu.
Die Atmosphäre in der Cafeteria wirkte gespenstisch. Das Licht war gedämpft, und die Stühle und Tische warfen lange Schatten. Kein Geräusch war zu hören, lediglich das dunkle Summen des Kaffeeautomaten. Sie waren allein und setzten sich an einen Tisch mit Blick auf den Park.
Mathilda fröstelte, und sie zog ihre Strickjacke fester um sich. Sie war in einer merkwürdigen Stimmung.
„Möchten Sie einen Kaffee?“, fragte er.
Er wusste, sie brauchte ein paar Minuten, um die innere Spannung abzubauen.
Sie nickte. „Das wäre nicht schlecht.“
Sie schaute ihm nach und musterte ihn unauffällig. Was sie sah, gefiel ihr immer mehr. Er war schlank und groß und wirkte dabei sehr sportlich und durchtrainiert.
„Gibt es etwas Neues?“, fragte sie, als er mit zwei Tassen Kaffee zurückkam.
„Nein, leider. Aber lassen Sie uns das Gespräch von gestern fortführen“, forderte er sie freundlich auf. „Vielleicht finden wir ja
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