EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
beschütze dich. Kein Leid wird dir geschehen.“
„Er hat mich gefesselt und angefasst!“, fistelte Dornröschen.
„Ich habe ihn verjagt und die Polizei gerufen, und jetzt bist du in Sicherheit.“
„Stimmt das?“
„Ja, Dornröschen.“
„Wo bin ich?“
„Zu Hause bei mir.“
„Stimmt nicht!“, rief jemand von unten.
Lukas zuckte ängstlich zusammen und ließ Dornröschen fallen, die prompt in sich zusammensackte. Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen, sein Ende erwartend.
„Komm runter!“, befahl Jakob.
Lukas gehorchte wie ferngesteuert. An der Eiche nahm Jakob ihn schweigend in Empfang und nahm mit ihm den kürzesten Weg zur Blockhütte.
„Dornröschen“, sagte er zu Lukas, der verschüchtert in der Wohnstube des Blockhauses stand, „ist nicht bei dir zu Hause, sondern liegt im Kreiskrankenhaus Bogenhausen auf der Intensivstation. Ich habe dir immer beigebracht, die Wahrheit hochzuhalten, mein Sohn. Und die Wahrheit ist, dass du mich verraten und die Polizei gerufen hast. Wenn du es nicht getan hättest, wäre Anna schon längst erlöst. Hast du denn immer noch nicht verstanden, dass ich ein Diener des Todes bin, der die Frauen erlöst?“ Seine Augen glommen dunkel auf wie der letzte Funken eines verkohlten Scheits auf dem Rost.
Lukas erzitterte vor der furchteinflößenden Gestalt seines Vaters. Der Tod war sein Vater, und er würde gleich sterben müssen, doch dann sagte der Tod: „Hab keine Angst vor mir. Ich werde dir kein Leid antun. Knie vor mir nieder, mein Sohn.“
Lukas tat wie geheißen, krampfhaft die Hände über dem Kopf verschränkt.
„Bete mir nach.“
„Ja-ja-ja, be-be-bete“, winselte Lukas.
„Gepriesen seist du, mein Vater …“
„Ge-ge … Ge-ge … pri-pri …“
„Sprich es in Gedanken nach.“
„Ja-ja.“
„Gepriesen seist du, mein Vater … durch unseren Bruder, den leiblichen Tod; ihm kann kein Mensch lebend entrinnen. Wehe jenen, die in schwerer Sünde sterben. Selig jene, die sich in deinem allheiligen Willen finden, denn der zweite Tod wird ihnen kein Leides tun. Lobe und preise mich, deinen Herrn und Vater, und erweise ihm Dank und dien ihm mit großer Demut.“
„Amen“, winselte Lukas.
„Erhebe dich, mein Sohn, die Angst sei nun fern von dir. Reich mir die Hand.“
Lukas tat es. Seine Augen flackerten nicht mehr. Er hatte sich beruhigt.
„Friede sei mit dir.“
„Amen.“
Lukas’ Eltern oder seine Tante mussten fromme und gottesfürchtige Leute gewesen sein, dachte Jakob, denn das Amen sprach er ruhig und klar und ohne Stottern, ja, es klang bei ihm geradezu andächtig und feierlich. Fast rührte es ihn.
„Setz dich.“
Lukas setzte sich.
„Ist Anna Dornröschen?“
Ein Nicken.
„Wieso?“
Schweigen.
„Hat sie dich an Dornröschen erinnert?“
Lukas nickte.
„Aha. Ja, da ist was dran. Also hör mal. Dornröschen liegt auf der Intensivstation in Bogenhausen, da kannst du sie nicht besuchen, die Schwestern würden dich auf keinen Fall reinlassen, außerdem wird sie auch noch von einem Polizisten bewacht. Der wird dich einsperren. Und in der Irrenanstalt kannst du noch nicht einmal den Flug der Vögel am Himmel bewundern.“
Und dann erklärte ihm Jakob, wie er Anna trotzdem sehen könnte. Er könnte sich an das Fenster ihres Krankenzimmers schleichen, das zum Park hin lag; die Intensivstation war im Erdgeschoss.
„Aber du musst mir über alles berichten, was du siehst, verstanden?“
Lukas nickte heftig.
***
Auf der Intensivstation herrschte eine beklemmende Stille. Nur das leise Piepsen der Monitore und das saugende Geräusch einer Beatmungsmaske waren zu hören. In dem großen Raum waren fünf Betten aufgestellt, zwischen denen blau gekleidete Pflegerinnen in weißen Stoffschuhen wortlos hin und her huschten.
Niemand hatte ihn auf dem Mittelgang angesprochen. Als eine der Schwestern ihn mit leicht hochgezogenen Augenbrauen ansah, glaubte er schon, das Spiel verloren zu haben, und dachte, dass sie jeden Augenblick mit dem Finger auf ihn zeigen, ihn aufhalten und ihre Kolleginnen rufen würde. Aber sie lächelte nur und schob einen Metallständer vor sich her, an dem eine Tropfflasche baumelte.
Er blieb abrupt vor dem Privatzimmer stehen und verharrte einen Augenblick, bevor er die Klinke drückte. Ein paar Minuten später kam er wieder heraus und eilte den Gang hinunter.
Hinter all den Drähten und Schläuchen hatte er versucht, Anna zu entdecken. Doch als er die Tür aufmachte und sie in ihrem Bett
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