EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
Platz nahm, sagte sie: „Ich erinnere mich an unser Gespräch vor neun Tagen. Damals war ich kaum in der Lage, Ihre Fragen zu beantworten.“ Sie nahm einen Schluck und sah ihn traurig an. „Ich ahnte, dass irgendwann etwas Schreckliches passieren würde. Es gab Anzeichen. Doch Max und ich wussten nicht, wie wir uns verhalten sollten. Ich mache mir solche Vorwürfe. Und jetzt liegt Anna dort …“ Sie zeigte auf die Glastür. „Mehrere Bisswunden in der rechten Schulter, tiefe Stichwunden, die knapp den rechten Lungenflügel verfehlten, ein komplizierter Beinbruch und ein Hirntrauma“, spulte sie herunter, als ob sie mit dieser Aufzählung das Schreckliche neutralisieren könne. „Sie liegt im Wachkoma, ihre Augen sind geöffnet, doch sie starrt nur an die Decke und bewegt sich nicht. Es ist, als wäre sie gar nicht da und ganz weit weg.“
„Es ist immer schrecklich, hilflos zusehen zu müssen, aber Ihre Freundin ist hier in guten Händen. Der Chefarzt der Klinik beobachtet seit fünf Jahren, wie Wachkomapatienten schrittweise das Bewusstsein wiedererlangen.“
„Wenn ich nur wüsste, was Anna tatsächlich wahrnimmt und ob Hoffnung besteht, dass sie irgendwann ins normale Leben zurückkehren kann.“
„Nicht viele Menschen haben das Glück, dass jemand sie in so schweren Stunden begleitet. Halten Sie durch. Ihre Freundin braucht Sie jetzt mehr denn je.“
Mathilda sah weg und kämpfte mit den Tränen. Seit Anna überfallen worden war, hatte noch niemand Anstalten gemacht, sie zu trösten. Sie war überrascht von seiner Offenheit. Wie alt mochte er sein? Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig. Mit dem dunkelblonden, kurzen Haar und den markanten Gesichtszügen sah er gut aus und wirkte sympathisch. Sie war froh, dass er bei ihr war und versuchte, ihr Trost zu spenden, obwohl er das nicht tun musste. Seine Aufgabe sei es vielmehr, Fragen zu stellen, hatte er neulich beim ersten Gespräch im Polizeipräsidium gesagt.
„Sie mögen Ihre Freundin wohl sehr, Mathilda – darf ich Sie Mathilda nennen?“, fragte er.
Sie nickte. „Wie konnte das überhaupt passieren?“, fragte sie. „Wer konnte ihr das nur antun? Anna hat niemandem etwas getan. Wissen Sie schon Näheres?“
„Nein. Wir stehen erst am Anfang unserer Ermittlungen. Wir haben die Familie, Nachbarn, Bekannte und Frau Wendels Freund Max Gavaldo befragt. Es gibt eine Spur, aber keine verwertbaren Fingerabdrücke.“
„Eine Spur?“
„Wir haben eine Spritze mit Ketamin in ihrem Garten gefunden.“
„Ein Irrer läuft herum, und Sie haben lediglich eine Spritze gefunden? Ist das nicht ein bisschen wenig?“
„Alles, was wir finden, sind Anhaltspunkte, und die helfen uns bei den Ermittlungen weiter.“
„Entschuldigung. Sie machen Ihre Arbeit, und ich kritisiere Sie. Was möchten Sie denn von mir wissen? Ich habe Ihnen bereits alles gesagt.“ Mathilda schaute ihn traurig an. „Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Wir suchen nach einem möglichen Tatmotiv. Alles ist wichtig. Die kleinste Kleinigkeit könnte uns weiterhelfen.“ Van Cleef holte seinen Notizblock hervor. „Ich möchte möglichst viel über Frau Wendel erfahren. Erzählen Sie, was Ihnen einfällt. Vielleicht gibt es in ihrer Vergangenheit einen Anhaltspunkt, der uns zum Täter führen könnte.“
„Sie möchten etwas über ihr Leben erfahren?“
Er nickte. „Wie haben Sie sich denn überhaupt kennengelernt?“
Der Kaffee duftete nach gerösteten Bohnen. Sie nahm einen Schluck und schilderte van Cleef ihr erstes Zusammentreffen in der Schule und wie zerbrechlich Anna damals wirkte.
„Uns verband eine typische Kinderfreundschaft. Ich mochte sie von Anfang an, ebenso meine Familie, besonders meine Mutter. Sie liebte Annas Phantasie und ihre Leichtigkeit. Sie war als Kind oft bei uns zu Hause; es war immer lustig, wenn sie mit uns am Tisch saß. Sie hat so eine ansteckend fröhliche Art. Anna hatte immer ein großes Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Nach Katharinas Beerdigung hatte sie das Gefühl, dass jemand sie beobachtete, und sie war ziemlich verstört. Merkwürdig, nicht? Und wir haben ihr nicht geglaubt!“
„Gab es einen bestimmten Grund, dass Sie ihr nicht glaubten?“
„Nein, eigentlich nicht. Vielleicht weil sie als Kind Spukgeschichten mochte. Wir dachten, sie hätte zu viel Phantasie.“
„Wie alt war Frau Wendel damals?“
„Vierzehn. Es war eine schlimme Zeit für sie. Katharinas Tod hat sie ständig verfolgt. Und nachts hatte sie Alpträume.“ Sie
Weitere Kostenlose Bücher