EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
abweisenden Handbewegung ab. „Man kann von dir auch nicht gerade das Gegenteil behaupten. Setz dich doch, Charly. Möchtest du, dass ich das Abteil ein wenig abdunkle?“
„Das wäre toll. Ich habe einen fürchterlichen Kater.“
Anna löschte das Licht bis auf die kleine Leselampe über ihrem Sitz.
Charlotta zupfte an ihrem Rocksaum, schlug die Beine übereinander, verschränkte die Arme und nahm sie wieder auseinander. Dann stand sie auf und sagte: „Lass uns in den Speisewagen gehen. Ich bin ganz kribbelig und nervös. Wir können dort eine Kleinigkeit essen und ein Glas Wein trinken. Der Kater macht mich ganz kirre.“
Im Speisewagen waren zwei Tische besetzt, an einem saß eine zierliche, grauhaarige Frau, die genussvoll eine Lasagne aß. Als sie an der älteren Dame vorbeiging, streifte Anna der verlockende Duft des italienischen Gerichts. Am anderen Ende saß ein elegant gekleideter Mann. Sie setzten sich, und ein Kellner überreichte ihnen die Speisekarten.
Charlotta inspizierte erwartungsvoll die Karte, und Anna musterte sie dabei unauffällig. Sie trug ein türkisfarbenes Kostüm, das die Farbe ihrer grünblauen Augen unterstrich. Das dunkle naturgewellte Haar hatte sie nach hinten gekämmt und mit einer grünen Schleife gebändigt.
„Sag mal, sieht man mir echt an, dass ich schlecht geschlafen und gestern zu tief ins Glas geschaut habe?“, fragte Charlotta, nachdem beide eine Flasche Rotwein und zwei Salate mit gebratenen Hühnerbruststreifen bestellt hatten.
Anna nickte. „Muss eine tolle Party gewesen sein.“
„Ja, das war es wirklich. Ich habe meinem Freund Lennart in München den Laufpass gegeben, mich mit seinen Eltern verkracht und seiner kleinen Schwester den Hintern versohlt, weil sie mein Hochzeitskleid ruiniert hat. Die Familie versuchte vergeblich, mich zur Vernunft zu bringen. Doch ich packte meine Koffer, fuhr ins Hotel und habe mich dort mit einer Flasche über meine geplatzte Hochzeit hinweggetröstet. Dann kam Max’ Anruf. Ich wollte ohnehin meine Eltern besuchen und fand die Idee, mit dir nach Italien zu fahren, entzückend. Also habe ich diesen Zug genommen.“
Anna sah sie an. Sollte das ein Scherz sein? Doch Charlottas Miene blieb ernst.
„Bemerkenswerte Story“, kommentierte Anna trocken. „Wann sollte denn die Hochzeit stattfinden?“
„Nächste Woche.“
„Ich wusste ja gar nichts davon. Was hat Lennart denn Schlimmes angestellt, dass du diesen Entschluss gefasst hast?“
„Max hat dir nichts gesagt? Ich sehe, mein Bruder ist ein sehr diskreter Mensch. Ich habe ihn vergangene Woche mit meinem Kummer geradezu überschüttet.“ Sie verzog die Mundwinkel. „Na ja, ich habe Lennart mit einer anderen erwischt.“
„Also dann hätte ich ihn auch abgeschossen“, sagte Anna.
„Ach, was soll’s? Wir waren zu verschieden. Gestern behauptete er, dass ich seiner Vorstellung von einer perfekten Ehefrau nicht mehr entsprechen würde. Als wir uns kennenlernten, wäre ich aufmerksam und fürsorglich gewesen. Eben der mütterliche Typ. Erst nach und nach habe er begriffen, dass ich einen Teil meines Lebens selbst in die Hand nehmen wollte, um weit weg von meinem Elternhaus Anerkennung zu finden. Nur sei ihm das am Anfang unserer Beziehung nicht aufgefallen. Ich dachte, ich falle aus allen Wolken. So ein blöder Idiot! Dass ich meinen Beruf aufgebe, davon war nie die Rede. Wozu auch? Ich bin gern Designerin. Ich liebe es, durch die Welt zu fliegen, andere Städte und Länder zu sehen und Anregungen für meine Kollektionen zu sammeln. Ich wollte mir immer ohne ihn einen Freiraum schaffen, um meine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“ Sie stockte und nahm Annas Hand. „Mann, ich rede mir den Frust von der Seele und vergesse dabei vollkommen, dir zu sagen, wie sehr ich mich freue, dich zu sehen. Einfach toll. Jetzt muss ich den Abend jedenfalls nicht allein mit dem Rotwein in meinem Schlafabteil verbringen.“
„Mir geht es ähnlich.“
Charlotta sah sie besorgt an. „Max hat es mir schon gesagt, Anna. Du fährst zu Pater Mateo, um dich zu erholen. Das ist dein gutes Recht. Ich bin überzeugt, du wirst gestärkt zurückkehren. Wie geht es denn meinem Lieblingspater?“
Anna zeigte mit dem Finger auf ihren Bauch. „Ich glaube, er braucht demnächst eine neue Soutane.“
Charlotta lachte. „Er ist wirklich ein guter Freund der Familie, und wir mögen ihn alle sehr gern, nur ist unser Wein in seiner Nähe nicht sicher.“
„Das kann ich mir vorstellen“,
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