Eiskalte Verfuehrung
Hand her zu urteilen, hatte sie ihre Flucht verdammt gut geplant. Hätte sich das Fenster nicht verklemmt, wäre sie wohl schon unten am Boden und auf dem Weg in die Stadt gewesen, bevor er sie noch gefunden hätte.
Lolly ließ das provisorische Seil fallen und schob ein Bein aus dem Fenster.
»Warte«, sagte er; sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren.
Wenn sie die zusammengeknoteten Betttücher aus dem Fenster warf und hängen ließ und er dann die Leiter wegstellte, nachdem sie heruntergeklettert war, würden diese Typen unten meinen, sie wäre ohne fremde Hilfe entkommen. Wenn sie dann wirklich blöd genug waren, um bei dem Unwetter die Verfolgung aufzunehmen, dann würden sie kalt erwischt, denn sie war eben doch nicht alleine. Fast ebenso schnell verwarf Gabriel den Plan, denn das Seil würde direkt vor dem Wohnzimmerfenster baumeln und sie womöglich früher als nötig alarmieren. Er hielt in der Hoffnung den Atem an, dass sie durchs Fenster die Leiter nicht sehen würden; wenigstens war ja das alte Holz dunkel und nicht so leicht zu erkennen wie ein weißes Laken.
Er betrachtete Lolly noch einmal. Sie hatte alles getan, was sie nur konnte, um sich möglichst warm einzupacken, aber der Regen würde durch all diese Schichten sickern, und dann hätte sie ein arges Problem.
Gabriel bewegte sich vorsichtig – die Leiter unter ihm schwankte schon. Er zog seinen Poncho aus und reichte ihn Lolly durchs Fenster. Lolly nahm ihn, warf ihm jedoch einen scharfen Blick zu. »Und was ist mit dir?«
»Du brauchst ihn nötiger. Zumindest ist mein Mantel wasserdicht.«
Der Poncho war von Eiskristallen bedeckt, bot aber einen erheblich besseren Schutz gegen den Regen als ihre Kleidung. Sein Mantel war schwer, er hatte Handschuhe, und seine Füße steckten in warmen, wasserdichten Stiefeln. Das einzige Problem war, dass seine Strickmütze nicht wasserdicht war wie die Kappe, die er im Ford gelassen hatte, aber schließlich hatte er nicht wissen können, dass er Lolly seinen Poncho überlassen würde. Die Strickmütze würde den Regen eine Weile abhalten, aber dann würde er einen nassen Kopf kriegen, und das war nicht gut. Sobald sie beim Pick-up waren, würde er seine Kappe wiederhaben; so weit konnte er es schaffen, ohne zu großes Risiko einer Unterkühlung.
»Ich steige jetzt wieder hinunter«, flüsterte er. »Diese Leiter ist halb durchgefault und trägt uns nicht beide auf einmal.« Er war sich nicht sicher, ob sie überhaupt lang genug halten würde, bis er unten anlangte, aber wenn nicht, würden sie eben auf Plan B mit den zusammengebundenen Betttüchern zurückgreifen. »Zwei Sprossen sind durchgebrochen – eine auf halber Höhe, die andere drei darunter. Tritt außen auf die Sprossen, nicht in der Mitte.«
Lolly nickte und zog sich den Poncho über ihre zig Schichten Kleidung. Gabriel ging vorsichtig rücklings die Leiter hinunter und wagte erst wieder, tief durchzuatmen, als er den vereisten Boden unter den Stiefeln spürte. Er stellte den Kragen seiner Jacke hoch, um seinen Nacken vor dem Wind zu schützen, und brachte sich so in Position, dass er die Leiter umfassen konnte. Lolly streckte kurz ihren Kopf aus dem Fenster, um sich zu überzeugen, dass er unten angekommen war, dann schob sie ein Bein durchs Fenster und tastete mit dem Fuß nach der obersten Sprosse. Sie erreichte sie aber nicht, die Leiter war nicht lang genug. Schließlich setzte sie sich auf den Fenstersims, schob beide Beine nach draußen und drehte sich um, bis sie auf dem Bauch lag. Sie ertastete die Leiter, setzte beide Füße auf und stieg vorsichtig auf dem knarrenden Holz nach unten. Sie bevorzugte die rechte Seite, wie er bemerkte, und er fragte sich, wie sie den langen Marsch den Berg hinunter durchhalten würde.
Dieser Fußmarsch wäre wegen des Eises tückisch und würde Stunden dauern. Unter normalen Umständen würde er den Versuch gar nicht unternehmen, aber die Umstände waren nun einmal nicht normal, und die einzige Alternative war, sich zu verstecken und zu warten … Aber worauf? Die Meth-Süchtigen im Wohnzimmer saßen ebenfalls fest; sie konnten auch nirgendwo hin, waren aber wenigstens im warmen Haus. Er und Lolly konnten nicht abwarten, bis das Eis schmolz, denn das mochte eine Woche oder gar noch länger dauern. Ihre beste Alternative – sie war nicht gut, aber zumindest besser als die anderen – war, schnellstmöglich den Berg zu verlassen, bevor das Gewicht des Eises anfing, Äste wie Zahnstocher abzuknicken.
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