Eiskalte Verfuehrung
zu sehen … Und da war sie!
Lolly ging im Zimmer herum, kam hin und wieder am Fenster vorbei. Ihr Gesicht war nicht so ausgemergelt wie das der Frau unten, und selbst von hier konnte er erkennen, dass sie etwas … vorhatte. Sie zog sich ein Sweatshirt über, obwohl sie bereits eines anhatte. Sie sah seltsam unförmig aus. Als hätte sie jedes Kleidungsstück übergezogen, das sie nur auftreiben konnte.
Als hätte sie vor zu fliehen …
Gabriel atmete tief durch, ignorierte die Kälte in seinen Lungen und die Eiseskälte, die ihn umgab. Sein Dad hatte recht gehabt. Wieder einmal. Lolly brauchte wirklich Hilfe.
Er warf einen Blick auf die Garage. Vielleicht fand sich dort ja eine Leiter.
5
In jedem Haushalt braucht man eine Leiter, dachte Gabriel, selbst wenn das Haus bloß ein paar Mal im Jahr benutzt wird. Sicher stand da irgendwo eine herum; sein Dad hatte immer gesagt, Mr. Helton sei ein umsichtiger Mann, und ein umsichtiger Mann musste eine Leiter haben. Der logischste Ort, wo ein umsichtiger Mann seine Leiter aufbewahrte, war eigentlich die Garage, oder etwa nicht?
Vorsichtig öffnete er die Seitentür der Garage und schaltete die Taschenlampe wieder ein, damit er etwas sehen konnte. Die Garage war recht klein; sie stammte aus einer Zeit, als die meisten Familien nur ein Auto besaßen. Es stand irgendwelcher Krempel herum, ein paar verblichene Gartenstühle und – ja! – eine Leiter.
Gabriel zerrte sie hinter den Gartenstühlen hervor, doch dann sank ihm der Mut. Das war keine richtige Leiter. Zum einen reichte sie nicht einmal bis zu Lollys Fenster hinauf. Und außerdem war sie aus Holz und alt. Die Sprossen befanden sich in keinem guten Zustand: Zwei waren gebrochen, und er wusste nicht recht, ob die anderen seinem Gewicht standhalten würden. Aber Lolly wog nicht so viel wie er, und schließlich musste sie darauf stehen, also würde sie ja vielleicht gerade noch so lange halten, damit sie herunterklettern konnte. Wenn nicht … dann würde sie hoffentlich springen. Nein, verdammt, dann müsste ich sie ja auffangen, dachte er verdrossen. Bei dem Glück, das er momentan hatte, würde sie womöglich noch auf ihn fallen und ihm ein Bein brechen oder ein paar Rippen.
Vielleicht hatte Lolly ja eine andere Möglichkeit herunterzuklettern. Wenn sie ihre Flucht vorbereitet hatte, dann hatte sie mit Sicherheit so etwas im Sinn. Vielleicht bräuchte er die Leiter dann ja gar nicht. Das hoffte er wirklich sehr, denn sie schien wirklich morsch zu sein und somit lebensgefährlich.
Als Gabriel die Leiter von der Garage zum Haus schleppte, schaute er noch einmal zu ihrem Fenster empor und sah, wie Lolly mit aller Kraft an dem Schiebefenster rüttelte, um es hochzustemmen. Sie hielt inne, packte erneut zu und versuchte es noch einmal. Soweit er sehen konnte, hatte sich das Fenster kaum einen Zentimeter bewegt.
Er fluchte wieder, diesmal aber still für sich, und revidierte dann seinen Plan. Er würde da hinaufmüssen, um das verdammte Fenster aufzustemmen. Ganz egal, wie sie vorgehabt hatte, den sicheren Boden zu erreichen, daraus wurde nichts, solange sie nicht durchs Fenster kam. Er schickte ein stilles Gebet gen Himmel. Vielleicht würde die Leiter ja halten.
Um sie richtig in Position zu bringen, musste er nach oben schauen, und dabei fiel ihm der eisige Regen direkt ins Gesicht, in die Augen. Ein plötzlicher Windstoß erfasste die Leiter und riss sie ihm fast aus der Hand. Die Leiter ans Haus zu lehnen, ohne dabei Lärm zu machen, würde sich ganz schön schwierig gestalten. Nur für den Notfall ließ er das Unterfangen vor seinem geistigen Auge Revue passieren: Sein Ziel war es, hinaufzuklettern, ohne herunterzufallen und sich das Genick zu brechen, das Fenster zu öffnen, wieder hinunterzusteigen, ohne herunterzufallen und sich das Genick zu brechen, und sich dann so unter der Leiter in Positur zu bringen, dass er Lolly auffangen konnte, falls sie fiel, damit nicht sie sich das Genick brach. Eigentlich ganz einfach.
Ach ja: Er musste das alles in gerade einmal fünf Sekunden hinkriegen, ohne Lärm zu machen und die beiden Meth-Süchtigen im Wohnzimmer aufzuschrecken.
Kein Problem, dachte er sarkastisch. Das reinste Kinderspiel.
Er richtete die Leiter auf und hielt sie mit beiden Händen fest, während er sie immer näher ans Haus heranbrachte, bis sie schließlich mit einem kaum vernehmbaren Geräusch unterhalb des Fensters lehnte. Im Haus drinnen musste es allerdings lauter geklungen haben, denn
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