Eiskalte Verfuehrung
an, unkontrolliert durch die Gegend zu schießen, und jede Zelle von Lollys Rückenmark schien sich zusammenzuziehen – als ob sie auf einen geglückten Schuss wartete, der sie traf. Wieder hatte die Zeit jegliche Bedeutung verloren. Eigentlich konnten nur zehn oder fünfzehn Sekunden vergangen sein, denn wie lange mochte es schon gedauert haben, bis die zwei auf die Veranda gelangt waren? Lolly hatte das Gefühl, als würden sie und Gabriel schon ewig in Richtung Wald laufen, obwohl sie in Wirklichkeit noch immer zig Meter entfernt waren. Lolly hatte Angst, einen Blick zurück zu werfen, sie hatte Angst, überhaupt etwas zu tun, außer zu versuchen, sich irgendwie auf den Beinen zu halten und möglichst rasch voranzukommen.
Nicht hinfallen, nicht hinfallen. Ihr Instinkt brüllte sie an zu rennen, doch selbst mit Gabriels Hilfe konnte sie sich nur gerade so auf den Beinen halten. Sie waren noch immer auf dem Gras, das nicht ganz so glatt war wie später dann die Zufahrt, aber jeder Schritt ließ sie in verschiedene Richtungen rutschen und schlittern. Gabriel erging es besser, vielleicht wegen seiner Stiefel, vielleicht aber auch, weil er schwerer war und in die Eisschicht auf dem Boden einbrach. Nicht hinfallen. Sie packte ihn mit tödlicher Entschlossenheit hinten am Mantel, klammerte sich an das ihr liebe Leben.
Dann erreichten sie den Waldrand, und Gabriel zerrte sie hinter einen der größeren Bäume; er presste sich mit seinem ganzen Körper an sie, als wollte er sie in die raue Borke schieben. Lolly klammerte sich an ihn, den Kopf an seiner Schulter vergraben, sie keuchte schwer. Wahllose Schüsse zerrissen die Luft; sie klangen seltsam dumpf und erstickt, als würde das Eis den Hall in sich aufnehmen, anstatt als Echo zurückzuwerfen. Ihr Herz schlug noch immer wie wild, obwohl sie jetzt hinter dem Baumstamm erheblich sicherer waren als vorher. Aber was nun? Wenn sie weiterrannten, würden sie sich wieder zur Zielscheibe machen. Und wenn sie nicht weiterrannten, mussten Niki und Darwin nur über den Hof gehen, um sie aus nächster Nähe abzuknallen.
Gabriel neigte sich vorsichtig nach links, bis er das Haus erspähen konnte, erleichtert, dass sie im Dunkel des Waldrands waren, während Niki und Darwin wie auf dem Präsentierteller auf der erleuchteten Veranda standen. Auch wenn sie wusste, dass sie nichts sehen konnten, packte Lolly ungewollt Gabriels Mantel noch fester bei dem Versuch, ihn wieder in den Schutz der Dunkelheit zu ziehen. Sie vermochte ihn nicht zu bewegen, nicht einmal einen Millimeter.
Seine Hand tätschelte ihre Schulter, eine beruhigende, jedoch geistesabwesende Geste, die ihr besagte, dass sie reiner Reflex war. Er konzentrierte sich auf die Situation, auf diese zwei idiotischen Mörder auf der Veranda. Es war absurd, aber trotz der lebensbedrohenden Situation, in der sie steckten, war es Lolly peinlich, dass sie so ängstlich war, und deshalb zwang sie sich schließlich, ihn loszulassen. Sie hatte es so weit geschafft, ohne sich in ein Häufchen Elend zu verwandeln, sie würde auch den restlichen Weg auf die Reihe kriegen.
»Wie viele Waffen hast du gesehen?« Er schien die Worte zu atmen, sprach fast tonlos.
»Zwei.« Aber das hieß natürlich nicht, dass nicht mehr vorhanden waren. Der alte Blazer der beiden konnte ein Geheimfach für Waffen enthalten.
»Kennst du dich mit Waffen aus?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. Sie wusste, wie ein Gewehr aussah, weil ihr Dad gern zum Tontaubenschießen gegangen war, aber damit – und mit dem, was sie im Fernsehen und Kino gesehen hatte – war sie mit ihrem Latein auch schon am Ende.
»Kennst du den Unterschied zwischen einem Revolver und einer Selbstladepistole?«
Zumindest das wusste sie. »Beide Waffen sind Automatikpistolen … glaube ich. Ich konnte die Waffe, die er in der Hand hielt, nicht sonderlich gut erkennen.« Darwin hatte sie aus der Tasche gezogen, aber sie hatte kaum Zeit gehabt, diese Tatsache zu registrieren, da hatte er sie auch schon gegen den Treppenpfosten gestoßen.
»Dann kannst du mir wohl nicht sagen, wie viele Kugeln in jeder Waffe waren«, meinte er trocken.
Lolly schüttelte den Kopf, obwohl es sich um eine rhetorische Frage gehandelt hatte. Hatte er wirklich die Anzahl der Schüsse gezählt ? Sie war kaum in der Lage gewesen, überhaupt einen Gedanken zu fassen, und schon gar nicht, sich zu merken, wie viele Schüsse abgefeuert wurden.
Dann hörten die Schüsse auf, doch das war fast noch
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