Eiskalte Versuche
Ein Vagabund wie er hatte keine Verwendung für ein Telefon. Im Augenblick war es besser, diese Tarnung beizubehalten.
David Schultz erhob sich von dem Platz, an dem er gefrühstückt hatte, und ging zu Isabella hinüber, die an einem anderen Tisch saß. Er beugte sich zu ihr, küsste sie auf die Stirn und setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber. Isabellas Augen umgaben dunkle Ringe, die Ränder waren rot und geschwollen. Sie in diesem Zustand zu sehen gab ihm das Gefühl, gebrechlich und hilflos zu sein. Er suchte nach Worten, die ihr halfen, ihren Kummer zu überwinden.
„Guten Morgen, Liebes. Wir haben dich schon vermisst“, begann er und wies auf die anderen Onkel, die noch beim Essen waren.
Isabella schob ein Obststück an den Tellerrand und legte die Gabel hin.
„Ich weiß, und es tut mir Leid. Ich hätte …“
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Wir haben uns nur Sorgen gemacht.“
„Mir geht es gut“, sagte sie und trank einen Schluck Kaffee.
David Schultz legte eine Hand auf ihren Arm und drückte ihn.
„Du siehst nicht so aus.“
Er meinte zu sehen, dass ihr Kinn zitterte. Als sie sich brüsk abwandte, wusste er, dass er Recht gehabt hatte. Ihre Augen waren feucht von ungeweinten Tränen.
„Isabella … Liebes … du brichst mir das Herz. Ich weiß, du vermisst Samuel genau wie deinen Onkel Frank. Aber du musst wissen, sie sind jetzt an einem besseren Ort. Samuels Herzinfarkt kam überraschend, doch er war schwer. Es gab nichts, was ihn noch hätte retten können. Auch Franks Tod konnte niemand verhindern. Er wurde ein Opfer der Umstände. Das weißt du doch, oder?“
Sie seufzte und schämte sich, weil sie nicht zugeben mochte, dass sie die meisten Tränen aus egoistischer Enttäuschung vergoss und nicht, weil sie ihren Vater und Onkel Frank verloren hatte.
„Ja, Onkel David. Ich weiß. Mach dir keine Sorgen, ich komme darüber hinweg.“
David runzelte die Stirn. „Warum bist du dann so niedergeschlagen?“
Sie hob die Schultern und blickte zur Seite. In diesem Augenblick sah sie Jack in den Speisesaal kommen. Sie fuhr zusammen. David merkte es. Plötzlich konnte er sich einen Reim auf ihr Verhalten machen.
„Wie war dein Ausflug gestern?“
Isabella machte ein verblüfftes Gesicht. „Welcher Ausflug?“
„Ich habe gestern Nachmittag nach dir gesucht. Delia sagte, du seist weggefahren. Mit diesem Schriftsteller, Jack Dolan. Zu einer Besichtigungstour. Deshalb fragte ich. Hat Dolan gefunden, was er suchte … für sein Buch?“
In ihren Augen blitzte Ärger auf, doch sie beherrschte sich. Onkel David konnte nichts dafür, dass sie eine Enttäuschung erlebt hatte.
„Vermutlich. Ich habe ihn in den
Lewin and Clark National Forest
mitgenommen.“
Ihr Onkel lächelte. „Zu dieser Jahreszeit muss es dort oben herrlich sein.“
„Es war kalt.“ Sie schenkte sich frischen Kaffee nach, fügte einen Löffel Zucker hinzu und rührte eifrig in der Tasse.
„Ihr müsst spät zurückgekommen sein. Ich habe dich beim Abendessen nicht gesehen.“
„So spät war es gar nicht. Ich hatte nur keinen Hunger“, erklärte sie.
„Liebes …“
Sie sah hoch. Die Besorgnis in Davids Gesicht entwaffnete sie. Außerdem hatte sie nie lügen können.
„Er hat nichts Unrechtes getan, wenn du dir deswegen Sorgen machst“, sagte sie leise.
„Wenn er keinen Annäherungsversuch gemacht hast, warum bist du dann wütend?“
Verblüfft über seine Beobachtungsgabe, suchte sie verzweifelt nach einer passenden Antwort.
„Magst du ihn?“ fragte David.
„Natürlich. Er ist ein netter Mann, aber ich kenne ihn kaum“, murmelte sie.
„Ach, weißt du … in der Liebe wurden Schlachten schon schneller gewonnen und wieder verloren als in der Zeit, die du Jack Dolan kennst.“
Isabella quittierte die Bemerkung mit einem Schulterzucken.
In diesem Augenblick wünschte sich David, Samuel wäre noch am Leben. Das Gespräch, das jetzt anstand, sollte ein Vater mit seiner Tochter führen, nicht der Onkel – schon gar nicht, wenn er nur ein Nennonkel war.
„Du bist nie viel herausgekommen. Wir, das heißt, die anderen Onkel und ich, haben uns oft Gedanken gemacht, das Leben in diesem Hotel könnte zu einsam für dich sein und dir nicht die Gelegenheiten zum Ausgehen bieten, die eine junge Frau haben sollte.“
„Ich bin so oft ausgegangen, wie ich wollte. Außerdem ist in dieser Gegend die Auswahl an passenden Männern beschränkt. Von den sechstausend Einwohnern, die Braden zählt, hat
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