Eiskalter Sommer
gab es weit und breit keinen Anhaltspunkt mehr, an dem sie sich hätten orientieren können. Irgendwann schlug Hendrik plötzlich der Länge nach hin. Als seine Kameraden ihm aufhalfen, stellten sie fest, dass er sich mit seinem Schneebrett in einem Stück Stacheldraht verhakt hatte. Es gehörte offenbar zu einem Weidezaun, der sich unter der Schneedecke verbarg.
„Lasst uns eine kleine Pause machen“, schlug Jan vor. „Mir tun schon die Beine weh. Außerdem habe ich Durst.“
Hendrik klopfte sich den Schnee von der Kleidung und schüttelte den Kopf. „Wir müssen weiter. Wenn wir heute noch in Lüneburg ankommen wollen, sollten wir versuchen, so früh wie möglich die Autobahn zu erreichen. Ausruhen können wir uns, wenn wir einen Wagen gefunden haben, der uns mitnimmt.“
„Er hat recht.“ Sven zog die Thermosflasche hervor. „Aber einen kleinen Schluck können wir wohl vertragen. Die Frage ist nur: heißes Wasser oder kaltes Bier. Besser, wir fangen hiermit an.“ Er schraubte den Deckel ab, und goss etwas von der dampfenden Flüssigkeit in den Becher. „Wer möchte?“ Als die Kameraden zögerten, trank er selbst und verzog das Gesicht. „Was für ein scheußliches Gesöff. Wartet, ich habe eine Idee.“ Aus einer der Schnapsflaschen gab er einen Schuss Korn ins Wasser und probierte erneut. „So geht’s“, stellte er fest und reichte den Becher weiter.
Während der nächsten Stunden ließen sie den Becher noch einige Male kreisen. Die Abstände wurden kürzer, die Pausen länger. Bis die Thermosflasche leer war. Irgendwann hatte Jan das Gefühl, nicht mehr gehen zu können. Er blieb stehen und stützte sich auf seinen Stock, den er vom Hof mitgenommen hatte. „Bist du sicher, dass wir in die richtige Richtung gehen? Wir müssten doch längst auf die Autobahn gestoßen sein.“
Hendrik schwenkte den Kompass. „Die Richtung stimmt. Wir sind nur zu langsam. Und wir machen zu oft Pause. Komm, Alter. Keine Müdigkeit vorschützen. Bald haben wir es geschafft.“
„Aber man müsste doch wenigstens etwas sehen .“ Jan hörte die Verzweiflung in seiner eigenen Stimme. Seine Kameraden hörten sie offenbar auch. Sie sahen sich an.
„Hör zu!“ Sven sprach eindringlich. „Wir schaffen das. Aber wenn du jetzt schlapp machst, schaffen wir es nicht. Also reiß dich zusammen!“
Jan war versucht, sich fallen zu lassen. Einfach hinlegen, die schmerzenden Glieder ausstrecken, die brennenden Augen schließen. Nur für eine Weile. Doch in ihm kroch die Angst hoch. Würden seine Kameraden auf ihn warten? Oder würden sie einfach weitergehen und ihn zurücklassen?
Hendrik musterte ihn mit kaltem Blick. Er schien seine Gedanken zu erraten. „Wenn du hierbleiben und verrecken willst, ist das deine Sache. Ich gehe jetzt jedenfalls weiter.“ Er wandte sich um und prüfte die Kompass-Anzeige. Dann marschierte er los.
Sven sah unschlüssig von einem zum anderen, hob schließlich die Schultern und folgte ihm wortlos.
*
Erst zögernd, dann deutlich, hob sich der Schweif des Tieres. Darunter quoll eine dunkle Masse hervor und platschte zu Boden. Weitere Ladungen folgten. Der Geruch nach Stall und Pferdeäpfeln, der sie schon umfangen hatte, als sie sich auf dem Hof des Wattwagenführers in Sahlenburg eingefunden hatten, verstärkte sich. Dann senkte sich der Schwanz. Ungerührt trotteten die beiden Hannoveraner voran.
Marie sah Felix an und hatte Mühe, den aufsteigenden Lachkoller zu unterdrücken. Überhaupt empfand sie die Situation als seltsam unwirklich, etwas kitzelte unaufhörlich ihr Zwerchfell. Sie saßen, umgeben von Touristen, deren Dialekt und unerschütterliche Äußerungen reiner Lebensfreude sie als niederrheinische Frohnaturen auswies, neben dem Kutscher auf einem dieser hochrädrigen gelben Wattwagen und rollten in Richtung Neuwerk.
Als sie den Deich überquerten, flogen lautstarke Grüße zwischen Passagieren und Passanten hin und her, dann wurde es allmählich still in dem Kutschwagen und das laute Getrappel der Hufe auf dem Asphalt ging in dumpfe Geräusche über, welche die schweren Tiere beim Auftreten auf dem Sand erzeugten. Später wechselte sich der gedämpfte Tritt auf dem Wattboden mit dem Platschen der Hufe in den vom Meer hinterlassenen Pfützen und Seen ab.
„Die Pferde scheinen den Weg ganz allein zu finden.“ Marie wies nach vorn. „Ich habe nicht den Eindruck, dass der Kutscher die Zügel benutzt, um die Tiere zu lenken.“
Felix hob die Schultern. „Es scheint
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