Eiskalter Sommer
jedenfalls nicht so ganz einfach zu sein. Der Kutscher heißt übrigens Wattwagenführer. Wusstest du, dass es eine Wattwagenverordnung gibt? Nicht jeder, der eine Kutsche lenken kann, darf mit Pferd und Wagen ins Watt.“
„Wirklich?“ Marie schüttelte ungläubig den Kopf.
„Es gibt eine Beifahrererlaubnis, eine Selbstfahrererlaubnis und die Hauptfahrererlaubnis. Letztere kriegst du erst nach fünfzehn Jahren Bewährung.“
„Bewährung?“ Marie lachte.
In ernstem Ton fuhr Felix fort: „Auf dem Wattwagen sind eine Trillerpfeife, ein Taschenmesser und ein betriebsbereites Funkgerät mitzuführen. Auf jeder der maximal drei Sitzbänke dürfen drei erwachsene Personen sitzen. Auf der mittleren und der hinteren Sitzbank dürfen vier Personen sitzen, wenn davon eine unter zehn Jahre alt ist oder alle Personen unter dreizehn Jahre alt sind.“
Marie beugte sich vor und wandte sich an den Wattwagenfahrer. „Stimmt das?“
Der Mann, der trotz der Wärme eine derbe Jacke trug, schob seine Schirmmütze in den Nacken und nickte. „Deichkantenfrisöre“, brummte er. „Das sind alles Deichkantenfrisöre, die sich so was ausdenken.“
Marie lehnte sich an Felix’ Schulter und gab sich ganz dem Gefühl heiterer Gelassenheit hin, das alle Anspannung in ihr verdrängte. Diese seltsame Reise zur Insel, deren charakteristisches Profil sie unzählige Male am Horizont gesehen und ebenso oft im Dunst oder Nebel vermisst, aber seit ihrer Kindheit nicht mehr betreten hatte, erschien ihr wie ein Ausflug in eine andere Welt. Evers und Jensen, Fedder und Ostendorff und alle Fragen, die sich um diese Namen drehten, blieben auf dem Festland zurück.
Als vor ihnen die Auffahrt für Wattwagen auftauchte, hatten sich die verschiedenen Wagengruppen zu einer einzigen Karawane vereint, deren endlos erscheinender Zug sich wie ein gelber Lindwurm auf die grüne Insel schlängelte.
Die Masse der Ankömmlinge ergoss sich auf den zentralen Platz unterhalb des Leuchtturms. Die meisten Touristen schienen nichts anderes im Sinn zu haben, als die eine Stunde Aufenthalt für Essen und Trinken zu verwenden, und so verteilte sich die Menge rasch in Gruppen, die dem „Anker“ oder dem „Alten Fischerhaus“, dem „Tüdelüt“ oder der „Watt-Oase“ zustrebten.
Marie betrachtete den kantigen alten Turm mit dem charakteristischen hölzernen Vorbau, der Besucher in die oberen Etagen führte. „Irgendwann möchte ich mal da rein. Aber nicht heute.“
Vor dem Aufgang gab es Gedränge, fast schien es ihr, als sei dort etwas Ungewöhnliches passiert. Dann entdeckte sie Fernsehkameras und einige Herren in dunklen Anzügen. „Lass uns mal kurz schauen, was da los ist“, schlug Felix vor, der den Auflauf ebenfalls bemerkt hatte.
Sie drängten sich näher heran. „Das ist doch nicht zu fassen!“ Felix stieß Marie in die Seite. „Was macht der denn hier? Wahlkampf auf Hamburger Gebiet?“
Marie reckte den Hals. „Wer sind die Leute?“
„Einer ist der Abgeordnete Ostendorff aus Cuxhaven. Der andere ist ein Hamburger Senator. Ich komme gerade nicht auf seinen Namen.“
„Ostendorff?“ Marie schüttelte den Kopf. „Hier kann er doch keine Wähler gewinnen. Die Neuwerker sind Hamburger, und die anderen sind Touristen aus aller Welt. Nur wenige dürften bei der Kommunalwahl ihre Stimme für Ostendorffs Partei abgeben können. Wahrscheinlich geht’s nur darum, sich in einer regionalen Fernsehsendung zu zeigen.“
Mit der flachen Hand schlug Felix sich vor die Stirn. „Du hast recht. Unter Ostendorffs unzähligen Pressemitteilungen war auch die Ankündigung eines Gesprächs mit dem Senator für Stadtentwicklung und Umwelt. Es sollte um den Nationalpark Wattenmeer gehen. Und um die Elbvertiefung. Hatte ich schon wieder vergessen.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Dabei kommt sowieso nichts raus. Das machen die nur, weil bei uns Wahlkampf ist.“ Trotzdem zog er Marie mit sich, näher an die Politiker und ihre Begleiter heran.
„Der Nationalpark Wattenmeer ist eine besondere Kostbarkeit“, hörten sie den Umweltsenator in Richtung Kamera sagen. „Deshalb wurde das Naturgebiet aus Meer, Watt und Inseln unter Schutz gestellt. Auch in Zukunft werden wir alles tun, um es für Pflanzen, Tiere und Menschen zu erhalten.“
Ostendorff nickte zustimmend und fügte hinzu: „Der Nationalpark hat das Ziel, die besondere Eigenart, Schönheit und Ursprünglichkeit des Wattenmeeres zu bewahren. Wir werden die Zusammenarbeit mit
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