Eiskalter Sommer
des Schillerzentrums in Lotsenviertel. Und waren sich einig gewesen, dass der Flughafen Nordholz ein Fass ohne Boden für den Landkreis Cuxhaven und die Gemeinde Nordholz werden würde. Zwischendurch hatten sie über Anekdoten gelacht, die Felix aus der Redaktion und Marie aus der Arbeit der Polizeiinspektion beigesteuert hatte.
Am Anrufbeantworter blinkte hektisch die rote Lampe. Marie drückte den Knopf zur Wiedergabe der eingegangenen Nachrichten. Es war nur eine. Von ihrem Vater.
„Marie? Na, du bist wohl nicht da. Wir sehen uns ja morgen. Du hast hoffentlich nicht vergessen, dass wir ... Na, du weißt schon. Mama freut sich, wenn du kommst. Ich natürlich auch. Außerdem habe ich eine Überraschung für dich. Bis morgen also. Papa.
*
Julia hatte sich mit Freundinnen zum Baden verabredet und das Haus – sehr zum Missfallen ihres Vaters – schon vor dem sonntäglichen Frühstück verlassen.
Dennoch hatte er sich einen Kommentar verkniffen. Ostendorff fühlte sich nicht in der Lage, mit seiner Tochter über Familienleben zu diskutieren. Zumal er in seinem Innersten wusste, dass davon ohnehin nicht mehr die Rede sein konnte. Außerdem hatte er kaum geschlafen und fühlte sich wie gerädert. Während er mit zunehmender Erregung den gleichmäßig tiefen Atemzügen seiner Frau gelauscht hatte, waren in seinem Kopf ihr Bild beim Liebesakt gekreist. Und um das Foto der vier jungen Männer, das ihm der Kriminalkommissar vorgelegt hatte.
Die Bemerkung seiner Tochter zu der Aufnahme hätte ihn beinahe aus der Fassung gebracht. „Da irrst du dich, mein Schatz“, hatte er geantwortet und sich bemüht, möglichst leidenschaftslos zu klingen. „Das ist nur eine gewisse Ähnlichkeit.“
Julia hatte sich damit zufrieden gegeben. Aber nicht die Kriminalbeamten. „Eine zufällige Übereinstimmung“, hatte er zu erklären versucht. „Diese Vornamen gibt es in unserer Region häufig. Und wenn Sie sich andere Fotos aus der Zeit ansehen, werden Sie feststellen, dass wir Ende der siebziger Jahre alle ziemlich ähnlich aussahen.“
Natürlich hatte er zugeben müssen, Evers und Jensen aus der Schulzeit zu kennen. Denn das würde die Polizei sowieso herausfinden. Vielleicht würden sie sogar herausbekommen, dass sie zusammen mit Erik Bohm bei der Bundeswehr gewesen waren. Dabei hatte er sich an die Hoffnung geklammert, dass niemand die Geschichte von damals ausplaudern konnte. Schließlich lebte keiner der Beteiligten mehr. Und die Frau hatte nach seinen Informationen die Sprache verloren. Oder das Gedächtnis. Oder beides.
Von dieser Seite drohte keine Gefahr. Was ihn jedoch beunruhigte, war die Begegnung auf Neuwerk. Den ungehörigen Fragesteller hatte er erst nachträglich erkannt, und sich gewundert, dass die junge Kriminalbeamtin neben ihm gestanden hatte. Was auch immer den Journalisten und die Polizistin zu seinem Treffen mit dem Innensenator getrieben hatte – ihre Anwesenheit hätte ihn nicht sonderlich irritiert. Aber das Gesicht hinter der Frau. Sein Anblick hätte ihm beinahe den Boden unter den Füßen weggezogen. Eine lange Sekunde hatte er geglaubt, Erik sei von den Toten auferstanden und habe ihn aus wissenden Augen angesehen.
Eine zufällige Ähnlichkeit? Wohl kaum. Es musste sein Sohn gewesen sein. Erik war damals Vater geworden. Der junge Mann dürfte vor knapp dreißig Jahren geboren worden sein. Hatte er der Polizei das Foto zugespielt? Hatte er die Yacht beschädigt, den Hund getötet, das Foto von Christines Eskapade aufgenommen?
„Die Zeitung muss ja heute wieder sehr spannend sein.“ Christines Stimme ließ ihn aufschrecken.
Ostendorff hatte sich hinter den Blättern des Sonntagsjournals verschanzt, war aber nicht in der Lage gewesen, sich auf einen Artikel zu konzentrieren. Der spöttische Tonfall löste eine Aufwallung von Aggression in ihm aus. „Mehr oder weniger“, knurrte er unwillig und blätterte um.
Sein Blick blieb an einer Schlagzeile auf der Bremerhaven-Seite hängen. „Gestorben im ewigen Eis.“ Das Alfred-Wegener-Institut erinnerte an den Tod seines Namensgebers im grönländischen Eis. Sofort kreisten seine Gedanken erneut um Evers und Jensen. Sie waren auch erfroren. Wie Erik. Nur fast dreißig Jahre später. Wollte der Sohn den Vater rächen? Aber wie konnte er erfahren haben, was sich damals abgespielt hat?
Unwillkürlich schüttelte er den Kopf.
Eine andere Meldung sprang ihm in die Augen. „Vermisste Lehrerin bleibt unauffindbar. Freitod oder Fremdverschulden?
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