Eiskaltes Herz
War es das, wonach sie sich gesehnt hatte? Weshalb sie immer um Mitternacht aus dem Fenster geklettert war? Als Flucht vor ihren Violinestunden und Überflieger-Eltern? Fast fing ich an, sie zu verstehen. Fast. Ich holte mein Handy heraus und suchte nach einem Vanessa-Foto. Irgendwo bei Facebook musste doch eins sein. Da! Ich hielt es wildfremden Leuten hin und schrie dabei: »Kennst du die?«
Manche nahmen mich gar nicht wahr, jemand reichte mir als Antwort einen Joint und ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, als ich in einer ruhigeren Ecke an ein Mädchen mit unglaublich weit gedehnten Ohrläppchen geriet. Ich konnte meinen Blick kaum von den dunklen Holzringen abwenden, die ein zentimetergroßes Loch umrandeten. Normalerweise fand ich das eklig, aber bei diesem Mädchen sah es überirdisch schön aus. Sie trug einehellrosa Mütze und hatte klare, zarte Haut. »Klar kenne ich die«, sagte sie mit einer Stimme, die klang, als ob sie von ganz weit herkam. »Nessa. Die Süße. Du weißt, dass sie tot ist?«
»Ja.«
»Life is a bitch.« Sie kippte ihren Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
»War Nessa oft bei den Partys?«
»Ziemlich. Ja. Immer eigentlich.« Sie lachte, es klang wie ein Kind. Sie war bestimmt noch keine fünfzehn. Auf einmal drehten sich ihre Pupillen nach innen.
»Geht es dir gut?«, fragte ich erschrocken. Sie reagierte nicht.
»Willst du was trinken? Wasser?«
Sie nickte.
Gott sei Dank, sie war nur weggedriftet. Ich lief los, sah mich suchend um, ging zu der kleinen Bar, schob mich durch Leute und brüllte dem Typen dahinter ein »Wasser« entgegen. Er warf mir eine Flasche zu und drehte sich gleich wieder weg, also ging ich zurück zu der Kleinen, jemand rempelte mich an, die glitschige Wasserflasche rollte auf den Boden. Ich ging in die Hocke, um sie aufzuheben, sah von unten hoch und erstarrte. Die Kleine hatte immer noch ihre Augen geschlossen. Aber an ihren gedehnten Ohrläppchen spielte jetzt jemand herum. Eine Hand. Besser gesagt ein Finger. Mit einem tätowierten Skarabäus darauf. Und wie um auch die letzten Zweifel noch auszulöschen, hörte ich den Besitzerjetzt auch noch sprechen. »Alles klar, Pixie?«, fragte er. »Wo ist denn deine Freundin von eben hin?«
Ich blieb unten hocken, ließ meine Haare wie einen Vorhang über das Gesicht fallen. Die Stimme vom Telefon heute und der Typ aus dem Wald mit Vanessa – ein und dieselbe Person. M. Und er suchte nach mir. Ich bewegte mich im Zeitlupentempo und Krebsgang zurück. Wo war der Scheißbodennebel, wenn man ihn brauchte? Ein Pärchen stapfte genau vor mich, sie kreischte laut, in dem Moment setzten die Bässe der Musik ein wie ein Maschinengewehr. Ich drehte mich um, immer noch in der Hocke, kroch jetzt vorwärts am Boden ein Stück weiter, bis sich endlich mehr Leute zwischen mir und dem Skarabäus befanden. Ich stand erleichtert auf.
In dem Moment legte sich von hinten eine Hand auf meine Schulter.
22
Mai
Ich fuhr herum. Leander.
»Da bist du ja«, rief er.
»Weg hier«, formte mein Mund lautlos, ich griff nach Leanders Hand und zog ihn einfach mit, rücksichtslos durch die Massen hindurch. Raus hier. Bloß raus hier.
Der Typ mit dem Skarabäus, da war ich mir jetzt ganz sicher, hatte mir die Drogen in der Walpurgisnacht untergejubelt. Deshalb auf einmal ein Drink, deshalb auf einmal die falsche Freundlichkeit. Hatte der mich nicht sogar kurz umarmt? Kam der Ohrring von ihm? Aber warum? Und jetzt wollte er unbedingt Vanessas Telefon. Zwei Puzzleteile, die zusammengehörten und doch nicht zusammenpassten.
»Was ist denn los?«, hörte ich Leander hinter mir fluchen. »Ich hab gerade jemanden gefunden, der mir was über Nessa erzählt hat.«
Wir waren draußen. Mir reichte es jetzt. »Der dir was über Vanessa erzählt hat? Das kann ich dir auch sagen. Kapierst du es immer noch nicht? Sie war hier. Ständig. Hat Drogen probiert, verkauft, gekauft,genommen, was weiß ich. Und der Typ, mit dem sie am Abend im Wald rumgemacht hat, der hat mir die Drogen gegeben, ich bin mir total sicher. Und jetzt will er ihr Telefon. Er ist unser Herr M. von vorhin. Der ist da drin, er hat mich gesehen. Ich habe keine Lust, ihn noch mal zu treffen.«
In Leanders Gesicht arbeitete es. Dann griff er mich am Arm. Wir rannten los.
Es regnete jetzt ziemlich stark, die Tropfen peitschten mir ins Gesicht, meine Lunge brannte, ich trat aus Versehen in eine Pfütze. Im Nu war mein linker Schuh total durchnässt, aber ich rannte
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