Eiskaltes Herz
nicht wenigstens jetzt zur Polizei?«
Einen Moment herrschte Schweigen. Dann erklang ein kleines Ächzen. »Weil ich blute und kaum laufen kann.«
»Was?«
»Die haben mich abgepasst heute Morgen, habe ich doch gerade gesagt.«
Etwas Kaltes huschte durch mich hindurch. »Okay. Okay.« Ich blieb vor der Turnhalle stehen, aus der schon die Trillerpfeife von Hoppi, unserem Sportlehrer, erklang. Hoppi würde auf meine ohnehin blamable Hochsprungvorführung verzichten müssen. »Ich komme zu dir. Okay? Bleib, wo du bist. Und ruf die Polizei an.«
»Nein«, kam es sofort zurück. »Lena, ich weiß jetzt auch, warum die das Handy wollen. Die machen uns fertig, wenn wir zur Polizei gehen. Da haben sie sich ziemlich deutlich ausgedrückt.«
»Warum denn?« Meine Stimme klang ganz belegt.
»Ich zeig es dir, wenn du hier bist.« Er zögerte kurz. »Und klingle nicht. Ich bin im Baumhaus.«
Auf dem Weg zu Leander hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass mir jemand folgte. Ich war dummerweise heute Morgen ohne mein Fahrrad losgegangen, weil ich so ein blödes Plakat als Projekt in die Schule transportieren musste. Deshalb fuhr ich mit dem Bus zu Leanders Viertel. Als ich an der Haltestelle in der Nähe von Leanders Haus ausstieg und die leere Straße entlanglief, hörte ich mehrmals ein Knirschen hinter mir und Schritte, aber jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, war niemand zu sehen. Wie konnte das sein? Wurde ich schon paranoid? Dachten die Typen jetzt etwa, dass ich das Handy hatte? Ich öffnete nervös das Gartentor zu Leanders Grundstück. Ein paar Häuser weiter backte jemand einen Kuchen, der Duft lag in der Luft, Flieder blühte,ein paar erste Pfingstrosen ebenfalls, ein Kind quengelte irgendwo, dann lachte es auf einmal. Leanders graue Katze stromerte wie immer durch den Garten. Behaglich idyllisches Vorstadtleben.
Diese Illusion zerplatzte sofort, als Leander die Tür des Baumhauses öffnete. Er sah schrecklich aus. Getrocknetes Blut klebte ihm unter der Nase und er hielt sich einen Beutel mit Eis an die Stirn. Sein Arm war dreckig und aufgeschürft, seine Lippe geschwollen.
»Scheiße«, flüsterte ich entsetzt, aber er winkte ab, sah vorsichtig in den Garten hinunter und signalisierte mir hochzukommen.
»Komm.«
Ich kletterte die Leiter zu Kimmys Baumhaus hoch, ein ziemlich großer Raum, mit bunten Kissen und Decken auf dem Fußboden, einem mit Wäscheklammern befestigten Vorhang und Kinderzeichnungen an den Wänden. In der Ecke saßen ein paar Puppen und hielten ein stummes Kaffeekränzchen mit hellblauen Plastiktassen. Ein einsames Puppenbein lag daneben und wirkte irgendwie gruslig, ein Eindruck, der durch zahllose blutbesudelte Papiertaschentücher auf dem Fußboden noch verstärkt wurde.
»Wo sind denn deine Eltern?«, fragte ich.
Er schob mit dem Fuß ein Bündel Klamotten zur Seite. »Die sind für ein paar Tage weggefahren. Mit meiner Oma und Kimmy. Kimmy ist ein bisschen … durcheinander.« Sein Blick streifte ein Bild, das ander Wand hing. Von Kimmy gemalt. Es zeigte eine Krakelfigur mit Flügeln und Nachthemd und langen Haaren, die über den Wolken schwebte. Vanessa als Engel.
»Ich habe die Pin-Nummer rausbekommen«, erklärte Leander ohne Einleitung. »Es war ganz einfach. Sie stand ja schon hier drin.« Er zeigte mir Vanessas Handy und öffnete darauf die Notizen. »Dieser seltsame Satz hier, erinnerst du dich? Hat mir keine Ruhe gelassen, denn es ergab keinen Sinn. Bis auf die Zahl. 1892. Die habe ich probiert. Und die hat die App geöffnet. Du hattest recht. Da ist ein Video drin.«
Die Notizen. Dieser unverständliche Satz, natürlich.
»Was ist mit dem Rest der Notizen?«, fragte ich, während ich langsam nach dem Handy griff. »Haben die auch eine Bedeutung?«
Er nickte und sah unendlich traurig dabei aus. »Aber nur für mich«, sagte er leise.
Ich öffnete die App und stellte fest, dass Vanessa nur ein einziges Video darin gespeichert hatte. Es war auch nicht lang, ungefähr drei Minuten. Ich holte tief Luft und drückte auf Wiedergabe. Zuerst waren nur Beine zu erkennen. Jeans, Turnschuhe. Das Video wackelte ein bisschen und schwankte hin und her und ich begriff, dass sie das heimlich gefilmt hatte. Es zeigte junge Männer, fast noch Jungs. Sie hantierten mit etwas, das im ersten Moment wie die Bestandteile eines Kaufmannsladens aussah,dann erkannte ich, was es war. Drogen. Pülverchen und Pillen und Waagen und Tütchen. Sie maßen ab, scherzten, redeten darüber, schmissen mit
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