Eiskaltes Herz
angehaftet. Zuerst hatte mir die Ungeheuerlichkeit dieses Gedankens fast den Atem genommen, mittlerweile nicht mehr. Irgendwas war faul an der ganzen Angelegenheit. »Zeig mir noch mal das Handy.«
Er reichte es mir und ich strich mit dem Daumen über das Display. Diese eine komische App … Es war nicht mal ersichtlich, was das war, sobald man es öffnete, erschien das Zahlenfeld für eine Pin-Eingabe. Es zeigte einen Tresor und je länger ich ihn betrachtete … Ich hatte eine Idee. Während die Straßenbahn quietschend durch immer dunklere Straßen schaukelte, ging ich auf meinem eigenen Telefon in den App-Store und suchte nach einer App namens VS. Bingo. Es war eine App, in der man Videos und Fotos speichern konnte, die nicht jeder sehen sollte. Jetzt wusste ich wenigstens, was es war. »Sie hat Videos oder Fotos da drin«, sagte ich zu Leander. »Kannst du es nicht öffnen?«
»Hab ihren Geburtstag auch schon probiert, aber die Kombination funktioniert hier nicht.« Er zuckte ratlos mit den Schultern.
Wir waren da, ich drückte auf den Haltestellenknopf, wenig später standen wir auf der Straße zwischen dunklen alten Fabrikgebäuden.
»Na, klasse«, sagte ich. »Und wohin jetzt?«
»Dahin.« Er zeigte in Richtung der alten Fabrikhallen. Von irgendwoher dort kam hypnotisch hämmernde Musik. »Dahinten ist die alte Textilfabrik. Eine riesige leere Halle. Dort wollten wir mal Fotos für die Band machen. Da ist es, wette ich mit dir.« Er kniff ein Auge zu. »Partytime.«
Die Halle war tatsächlich riesig, die Eingangstür an der Seite im Kontrast dazu winzig wie die Tür zu einem Hexenhaus. Man musste sich bücken, um hineinzukommen. Rote Lichter zuckten aus dem Inneren der Halle, aber nichts gab einen Hinweis darauf, was hier ablief. Kein Schild, niemand, der davorstand. Ich zögerte einen Moment lang.
»Was, wenn da noch keiner drin ist?«, flüsterte ich unbehaglich. »Oder noch schlimmer – nur ein oder zwei Leute. Die sofort wissen, dass wir nicht dazugehören? Was sagen wir denn dann?«
»Dann tun wir so, als ob wir besoffen sind«, entschied Leander. »Und vom Licht angelockt wurden oder irgend so was.« Er öffnete die Tür. »Los.« Einen Moment lang spürte ich seine Hand auf meinem Rücken, dann stand ich in einem dunklen Vorraum voller alter Rohre und Graffiti. Man musste um die Ecke gehen, die Musik wurde immer lauter, je weiter man hier eindrang, und jetzt roch ich auch einenseltsamen Geruch – ein Gemisch aus Rauch und Marihuana und noch irgendwas, wahrscheinlich der weiße Bodennebel, der uns entgegenquoll. Hinter dem Knick im Gang standen jetzt Leute, die uns komplett ignorierten. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Kein Geheimbund, keine Zuhälter. Nur donnernde Musik, eine behelfsmäßige Bar, tanzende Leute, endlos viele Piercings und, wie es aussah, auch jede Droge der Welt, wahrscheinlich sogar irgendwelche Kakteen und Pilze. Und Scratch .
»Wie sollen wir denn hier Yoralin finden?«, brüllte ich Leander ins Ohr. »Wir wissen doch nicht mal, wie die aussieht!«
Er zuckte mit den Schultern und schrie etwas zurück, aber ich konnte ihn nicht verstehen. Irgendjemand zog mich am Arm, ein Mädchen, sie grinste leer und glasig, wankte vor und zurück und strich sich immer wieder über die Haare.
War das Yoralin? »Bist du Yoralin?«, schrie ich. Das Mädchen schüttelte den Kopf, fasste meine beiden Hände und zog mich mit sich, als ob sie mit mir tanzen wollte. Sie grinste immer noch wie ein Zombie, dabei hatte sie, das sah ich erst jetzt, kleine schwarze Engelsflügel angeschnallt. Ihr nackter Bauch glänzte feucht und aus ihrem Mund lief ein bisschen Speichel. Ich fragte sie noch mal, aber sie grinste wieder nur und jetzt kapierte ich, dass sie gar nicht mehr in der Lage war zu reden. Ich ließ sie stehen. »Komm«, brüllte ich über meine Schulter hinweg, drehte mich dabei halb um. Ich fluchte. Leander warnicht mehr hinter mir. Ich hatte ihn irgendwie verloren.
Direkt neben mir stieß jemand einen Freudenschrei aus, ein Mädchen mit kniehohen Stiefeln und Hotpants sprang einem Mann mit dünnem Backenbart an den Hals, der grinste und reichte ihr ein kleines Päckchen. »Du bist die Rettung«, brüllte das Mädchen. Hatte Vanessa das auch gebrüllt? Offenbar hatte sie hier eine nicht unbeträchtliche Zeit ihres Lebens verbracht. Nichts hier war legal, weder die Party selbst noch das ganze Zeug, das hier die Runde machte und mit dem man eine ganze Kleinstadt hätte versorgen können.
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