Eiskaltes Herz
als wir unten aus der Haupttür in den Hof hinaustreten, weht eine Stimme zu mir. Nadines Stimme. Sie steht keine drei Meter von der Tür entfernt, ihre Sporttasche über dem Arm, eine Tüte Schmalzgebäck vom Rummel in der Hand. Tine steht neben ihr.
»… muss ich mir aber vor San Francisco unbedingt noch zulegen«, sagt Nadine gerade. »So superwarm ist es da glaube ich nicht. Oh Mann, das wird endgeil, Tine, ich halte es kaum noch aus, ich zähle die Tage, bis wir fliegen.«
Ich hätte es vor ein paar Minuten nicht für möglich gehalten, dass ich mich noch elender fühlen könnte, aber als ich das höre, würde ich am liebsten losheulen. Die beiden fliegen also zusammen. Deshalb heute die ach so nette Einladung, mal wieder was zusammen zu machen. Weil Tine garantiert ein schlechtes Gewissen hat. Aber sie muss Nadine ja eingeladen haben. Schon vor einer Weile, so etwas entscheidet man nicht von heute auf morgen. Da gab es Gespräche zwischen den Eltern, Gelächter und Schulterklopfen. All das, während meine Eltern immer noch glaubten, dass ich bald in die USA fliege und »hoffentlich diese ganze schreckliche Angelegenheit vergesse«. Ich kämpfe die Tränen zurück und schaffe es unter Aufbietung aller meiner Kräfte, ein neutrales Gesicht zu ziehen. Es ist doch auch egal. Scheißegal, angesichts meiner Situation, angesichts all dessen, was in den letzten Wochen passiert ist. Es betrifft mich nicht mehr, es ist Kinderkram, mein Leben hat längst andere Bahnen eingeschlagen. Wer weiß, wo ich bin, wenn die beiden nach San Francisco fliegen.
»Lena!«, sagt Tine überrascht. »Was machst du denn hier?«
Die beiden Mädchen wechseln einen Blick. Als sie mich heute das letzte Mal gesehen haben, stand dieser Ben neben mir, der aussah wie ein Fünftklässler und mir gerade gestanden hatte, dass er gern nachts unter meinem Fenster lauerte. Jetzt treffen sie mich wieder und ich habe einen Mann Anfangdreißig mit kahl geschorenem Kopf und Lederjacke im Schlepptau.
»Was vergessen«, antworte ich. Ich blinzele die Träne weg, die sich erneut hinausschleichen will.
»Dachte, du wolltest noch auf den Rummel kommen?«, fragt Tine.
Ich schüttle den Kopf. »Hat nicht so gepasst.«
»Hat nicht so gepasst«, wiederholt Tine. Sie schüttelt irritiert den Kopf. Der Skarabäus drückt mir seine Hand in den Rücken. Geh weiter, soll das heißen.
»Kennen wir uns?«, fragt Tine ihn jetzt. Sie will eindeutig nur herausfinden, was ich mit dem zu tun habe. Nadine grinst. Skarabäus antwortet nicht, der Druck in meinem Rücken verstärkt sich.
»Dann noch einen schönen Abend«, sage ich. »Könnt ja euren Trip nach San Francisco planen.«
Tine zieht erschrocken die Luft ein, Nadine lässt einen Schmalzkringel fallen. Damit haben sie nicht gerechnet.
»Lena, hör mal …«, setzt Tine an und sieht unheimlich betreten aus, wie ein kleines Mädchen, doch ich unterbreche sie, denn in diesem Moment habe ich einen Geistesblitz.
»Oder wenn ihr nicht euren Trip plant, vielleicht könnt ihr ja mal wieder Secret Girls spielen.«
Nadine runzelt fragend die Stirn.
»Hä?«, macht Tine.
»Tschüss dann«, sagt der Skarabäus. Er schiebt mich voran.
»Wie damals mit dem alten Herzinger. Nur so alsIdee.« Das ist für Tine bestimmt und ich kann sehen, dass es in ihrem Kopf zu arbeiten beginnt. Der alte Herzinger. Unser einziger echter »Fall« damals. Den wir dabei beobachtet hatten, wie er hastig eine Dose, die aus seiner Einkaufstüte gerollt war, zurück in die Tasche stopfte und sich dabei ängstlich umsah. Hundefutter. Dabei besaß er doch gar keinen Hund. Tine wagte es damals, auf den Baum im Nachbargarten zu klettern, und entdeckte, dass er den Mops von Frau Wolters gekidnappt und im Schuppen versteckt hatte, um ihr eins auszuwischen. Es ging irgendwie darum, dass die Familie Wolters immer zu laute Grillabende veranstaltete oder zu laut Musik machte oder so.
Ich starre Tine an, hypnotisiere sie fast, hoffe, dass sie mich telepathisch versteht, und als mich der Skarabäus weiterschiebt, wage ich eine winzige letzte Augenbewegung in seine Richtung. Hilf mir, heißt das. Du bist doch so gut darin, dir Leute zu merken. Gesichter. Autonummern.
Als wir schon ein paar Schritte weit weg sind, höre ich Nadine.
»Also findest du nicht auch, dass Lena immer mehr runterkommt?«, sagt sie leise. »Mit was für Typen die in letzter Zeit so rumhängt. Wer war das denn?«
Was Tine erwidert, kann ich nicht verstehen, und als ich mich
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