Eiskaltes Schweigen
ein grobes Profil zu erkennen. GröÃe dreiundvierzig, schätzte ich, maximal fünfundvierzig. Unsere allererste Spur im Mordfall A Punkt Bovary. Ich kniff die Augen zu und riss sie wieder auf. Aber das Bild, das sich mir bot, blieb verschwommen.
Wieder ertönte der Gong. Aus der Tür des zweiten Fahrstuhls trat eine junge Frau, grüÃte mit irritiertem Blick stumm in die Runde und ging dann mit vorsichtigen und leicht schwankenden Schritten den Flur bis zum Ende hinunter, wo sie eine Wohnungstür aufschloss und, ohne noch einmal zurückzusehen, verschwand. Sie trug einen leichten, für die Kälte eindeutig zu kurzen Mantel, unter dem lange Beine in hauchdünnen, glitzernden Strümpfen hervorragten. Die FüÃe steckten in ganz und gar nicht zu ihrem restlichen Outfit passenden gefütterten Stiefeln, in der Hand hielt sie zwei ebenfalls glitzernde Schuhe mit schwindelerregend hohen Absätzen. Nach ihrer Aufmachung zu schlieÃen, kam sie von einer alkoholreichen Party. Oder von der Arbeit? DrauÃen herrschte eine arktische Kälte, es lagen über zwanzig Zentimeter Neuschnee, und auch ich hatte noch keine Sekunde geschlafen in dieser nun schon fast vergangenen Nacht.
»Wer hat sie gefunden?«, fragte ich.
Die etwas zerbrechlich wirkende, vielleicht fünfzigjährige Nachbarin in rosa changierendem Seidenmorgenmantel und Plüschpantoffeln hob so zaghaft die Hand, als wäre sie damit die erste Verdächtige in diesem Drama. Sie bewohnte die Wohnung genau gegenüber dem Tatort. Auch dort stand die Tür ein wenig offen. Insgesamt gingen zwölf Türen von dem langen Flur ab, zählte ich. Das für die frühe Stunde erstaunlich akkurat frisierte Haar der Zeugin war schon fast vollständig ergraut, doch ihr Gesicht sah trotz des fahlen Neonlichts erstaunlich jung aus.
Was wollte ich hier? Im Bett sollte ich liegen und schlafen, endlich schlafen. Warum hatte ich vorhin meine Neugier wieder einmal nicht bändigen können, als die Meldung per Handy kam? Aber nun stand ich hier, und als Chef der Heidelberger Kriminalpolizei konnte ich mich nicht einfach wieder verkrümeln. Meine Glieder waren bleischwer, und zudem war ich ziemlich betrunken. Nein, es war nicht nur die Neugier gewesen, die mich hergetrieben hatte. Es war auch die Sorge, ob hier alles seinen richtigen Gang ging, wenn drei Viertel meiner Leute mehr oder weniger betrunken unter irgendwelchen Tischen lagen oder immer noch weitertranken.
Im Grunde hatte ich hier nichts verloren. Als Chef hat man keine Bereitschaftsdienste mehr. Als Chef hat man an Wochenenden frei. Was zu tun war, würden die diensthabenden Kollegen erledigen, und einem so übersichtlichen Fall dürfte hoffentlich selbst Rolf Runkel gewachsen sein.
Eine griechische Hochzeitsfeier gilt erst dann als gelungen, wenn sich keiner mehr aufrecht halten kann, hatte ich in den vergangenen Stunden gelernt. Soweit es mich betraf, hatte die Veranstaltung ihr Ziel fast erreicht. In meinen Ohren dröhnte noch immer die Musik, in meinem Kopf tanzte dieser verteufelt süffige Athos mit diversen Ouzos Sirtaki, und in meinem Magen rumorte zentnerschwer alles, was die griechische Küche an gut Gewürztem und scharf Gebratenem zu bieten hat.
Endlich kam mir eine Idee. Ich wandte mich an die rosafarbene Dame: »Können wir uns irgendwo setzen? Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«
»Natürlich.« Zaghaft wies sie auf die Tür zu ihrer Wohnung. »Wenn Sie mögen, könnte ich auch einen Kaffee â¦Â«
Ich verkniff mir ein Lächeln. Meine Idee hatte funktioniert.
Ich gab Runkel die Anweisung, schon einmal mit der Befragung der anderen Nachbarn zu beginnen und ansonsten auf die Spurensicherung zu warten, und folgte der Frau in ihre etwas muffig riechende Wohnung. Meine Gastgeberin hielt sich für die frühe Stunde sehr aufrecht.
Stumm bot sie mir einen Platz auf dem Sofa an, das wirkte, als wäre es für Kinder gemacht. Das Wohnzimmer war klein, die ganze Wohnung war klein, wie die Bewohnerin auch. Ichsetzte mich vorsichtig, sie verschwand mit einer gemurmelten Entschuldigung in der Küche. Nach Sekunden sprang ich wieder auf, öffnete eines der beiden Fenster und nahm ein paar tiefe Atemzüge von der eiskalten Luft, die hereinströmte. Das tat gut.
Ich hörte die Frau in der Küche hantieren. Bald begann es, nach Kaffee zu duften.
Der Kaffee, den sie wenige
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