Eismord
Hundebesitzer, Leute, die den Sonnenuntergang genossen. Gestern Abend hatte es allerdings keinen Sonnenuntergang gegeben. Über dem See und den Inseln und der Stadt hatte sich eine dünne Wolkenschicht gebildet. Das einzige Licht auf dem Landesteg warfen die hohen Straßenlaternen im Abstand von ungefähr zwanzig Metern.
Er lief an der Chippewa Princess vorbei, einem alten Kreuzfahrtschiff, das als Restaurant dauerhaft auf Trockendock lag. Ein Stück weiter lockte ein Souvenirgeschäft, dessen Schatten drei Mal länger war als das Häuschen selbst.
Cardinal lief langsam, den Blick unverwandt auf das Holz zu seinen Füßen gerichtet. Der Steg war alt, an vielen der morschen Latten hatten sich weiche Splitter gelöst. Falls der Mörder vom Trout Lake hier gewesen war, würde Cardinal nicht so leicht die genaue Stelle finden. Außerdem gab es draußen am Trout Lake einen Yachthafen, den er ebenfalls überprüfen wollte.
Der Bootssteg ragte L-förmig ins Wasser. Als er an den rechten Winkel kam, hob er nicht einmal den Blick. Unter seinen Füßen knirschte Eis am Dock. In den Teergeruch mischte sich der Gestank nach Fisch. Alte Fischhaken, die im hölzernen Geländer verankert waren, schimmerten im Licht. Hier draußen fühlte es sich fünf Grad kälter an.
Als er ungefähr ein Drittel des unteren L-Strichs zurückgelegt hatte, waren ihm immer noch keine beschädigten Stellen im Boden aufgefallen, die leichter als andere splittern würden. Er hob den Blick und entdeckte Menschen am Ende des Stegs. Er brauchte eine Sekunde, bis ihm klar wurde, dass es keine Menschen waren.
Die Köpfe steckten auf der etwa brusthohen Bohlenwand des Stegs. Cardinal näherte sich zuerst dem der Frau. Langes blondes Haar hing über die Wand. Auf der Cardinal zugewandten Seite war es blutverklebt. Links ein kleinkalibriges Einschussloch. Sie war der weiten, dunklen Fläche des Sees zugewandt, als wartete sie darauf, dass ein Geliebter nach langer Abwesenheit durch Nacht und Wind und Schnee zu ihr zurückfand.
Der Kopf des Mannes folgte nicht weit dahinter am Ende des Stegs, das Gesicht nach Osten gerichtet. Die Rückseite des Schädels war von einer Austrittswunde blutig und verformt. Eine Brise zerzauste das graue Haar.
»Mein Gott«, flüsterte Cardinal.
Cardinal hatte die Hände in den Hosentaschen und nahm sie nicht heraus, als er sich über das Ende des Stegs beugte, um sich das Gesicht anzusehen. Mit den geschlossenen Augen und der meditativen Reglosigkeit hätten seine Züge feierliche Ruhe ausgestrahlt, wäre nicht das Einschussloch über der rechten Augenbraue gewesen.
Cardinal lief den gleichen Weg zurück, den er gekommen war, und knöpfte seinen Parka auf, um sein Handy aus der Innentasche zu kramen – nur dort überlebte die Batterie die Kälte. Er wählte Delormes Nummer. Während er sprach, ging er langsam weiter und versuchte, sich zu beruhigen. Dann rief er Chouinard und den Staff Sergeant an. Als Delorme wenige Minuten später eintraf, wartete Cardinal an seinem Wagen auf sie.
»Mach dich auf was gefasst«, sagte er zu ihr. »Es ist noch schlimmer als vorgestern Abend.«
Nachdem sie bei den Köpfen angekommen und Delorme sich die toten Gesichter angesehen hatte, fragte sie: »Was hat dich dazu gebracht, mitten in der Nacht hier rauszukommen?«
»Arsenault hat einen Splitter Holz gefunden, der nach Öl oder Gas roch. Mir ist erst jetzt klar geworden, dass das Teer ist. Diese Leute hier kommen vermutlich von außerhalb, und ich hab überlegt: Was machen Besucher, wenn sie hierherkommen? Sie sehen sich die Kirche an, das Eisenbahnmuseum, das Government Dock. Das ist es auch schon.«
»Also, die Köpfe mussten im Dunkeln hierhergebracht werden, aber dieser Holzsplitter, der steckte im Fußabdruck des Mörders?«
»Ja.«
»Das heißt, er hat
vor
den Morden eine Sightseeingtour zu diesem Dock gemacht?«
»Sightseeing wohl eher nicht, aber ich nehme an, dass er hier war, ja. Also könnte ihn jemand gesehen haben, selbst wenn niemand da war, als er zurückkam, um seine Trophäen aufzuspießen.«
Delorme deutete auf das Ende des Docks. »Zwischen den Morden und jetzt muss er die Köpfe irgendwo versteckt haben – die können höchstens seit ein paar Stunden hier sein.«
»Und wieso bringt er sie überhaupt hierher? Wieso geht er das Risiko ein, dass ihn dabei jemand beobachtet? Wieso spießt er sie in diesen seltsamen Positionen auf?«
»Wenn man erst mal anfängt, Leuten den Kopf abzuhacken, kommt einem
Weitere Kostenlose Bücher