Eisnacht
»Lilly, du musst atmen!«
Sie lag absolut reglos da, ohne jede Reaktion und grau wie der Tod.
Er schob den Arm unter ihre Schultern, hob sie wieder an und rüttelte sie rücksichtslos. »Atmen, Lilly! Du musst einatmen. Bitte, bitte, bitte. Komm schon, hol endlich Luft!«
Dann tat sie es. Das Medikament wirkte genau wie erhofft, löste augenblicklich die Muskelkrämpfe, die ihre Atemwege verschlossen hatten, und öffnete dadurch die Bronchien.
Sie holte pfeifend Luft. Dann noch einmal. Beim dritten Ausatmen schlug sie die Augen auf und sah ihn an, dann schloss sie ihre Hände um seine, die immer noch den Inhalator an ihre Lippen hielten. Sie drückte noch einmal auf den Zylinder. Ihre Atemzüge klangen gurgelnd, pfeifend, grässlich. Tierney sagte: »Musik in meinen Ohren.« Plötzlich schubste sie das Spray weg und hustete in ihre Hände. »Hier.« Er zog das Handtuch, das er in der vergangenen Nacht als Kopfkissen verwendet hatte, vom anderen Sofa und warf es ihr zu.
Sie hustete hinein. Die Krämpfe schüttelten ihren ganzen Körper. Tierney blieb vor ihr auf den Knien und murmelte ihr aufmunternd zu.
Schließlich ließ das Husten nach. Sie nahm das verdreckte Handtuch vom Mund. Er nahm es ihr ab. Sie schien die Augen nicht von ihm abwenden zu können, erst da begriff er, wie furchterregend er aussehen musste.
Er wischte seine Brauen und Wimpern ab und zerrte den steifen, vereisten Schal vom Kinn. »Ich bin kein Geist. Ich bin es wirklich.«
»Du bist zurückgekommen?« Ihre Stimme war kaum zu verstehen. »Warum?«
»Weil ich das von Anfang an vorhatte. Du dachtest, ich würde dich hier allein lassen, damit ich fliehen kann.« Sie nickte.
»Hättest du mir geglaubt, wenn ich dir versprochen hätte, dass ich mit deiner Medizin zurückkomme?« Langsam schüttelte sie den Kopf.
»Genau. Wenn ich versucht hätte, dich zu überzeugen, hätte ich nur wertvolle Zeit verschwendet, deshalb hatte ich keine Wahl, als dich das Schlimmste glauben zu lassen, als ich ging. Es war nicht leicht, dich allein zu lassen.« Die Armlehne des Sofas als Stütze nutzend, zog er sich von den Knien hoch und stand dann auf. Er bewegte sich, als wäre er Jahrzehnte älter, als er wirklich war. Die Füße in seinen Stiefeln waren taub. Ohne den Boden zu spüren, schlurfte er zum Kamin und legte ein paar dünne Äste auf den Rost. Um die fast erloschene Glut wieder anzufachen, bückte er sich und blies vorsichtig hinein. Die Stöcke fingen Feuer, und bald leckten hungrige Flammen an den Scheiten.
Er ließ den Rucksack vom Rücken gleiten, stellte ihn auf dem Boden ab und schubste ihn mit der Stiefelspitze unter den Beistelltisch. Dann wickelte er den Schal von seinem Hals und nahm die Decke und die Mütze ab. Er hängte alles zusammen mit seinem Mantel über einen der Barhocker, damit es trocknen konnte. Behutsam betastete er seinen Hinterkopf und inspizierte danach seine Finger, ob frisches Blut daran war. Entweder hatte die Wunde aufgehört zu bluten, oder das Blut war gefroren.
Er setzte sich auf das zweite Sofa und schnürte die Stiefel auf. Kurz zögerte er, ob er den rechten Stiefel überhaupt ausziehen sollte, da der Knöchel, wie er wusste, möglicherweise so stark anschwellen würde, dass er den Stiefel nicht wieder anziehen konnte. Aber wenn sein Fuß weiterhin so schlecht durchblutet wurde, würden ihm eventuell die Zehen abfrieren.
Die Zähne gegen den Schmerz zusammengebissen, zog er zehenwackelnd den Fuß aus dem Stiefelschaft und schälte dann die Socke ab. Das Gelenk war angeschwollen, aber nicht so schlimm, wie die Schmerzen vermuten lassen hatten. Er sah keine Anzeichen für irgendwelche Erfrierungen, massierte die Zehen aber trotzdem kräftig durch. Höllische Schmerzen durchschossen ihn, als das Blut wieder in die Adern floss, aber das bedeutete nur, dass die Kapillaren nicht unwiederbringlich geschädigt waren.
Während er all das erledigte, saß Lilly mit offenem Mund vor ihm und starrte ihn mit großen Augen an, als wäre er ein Geist.
Er erhob sich so langsam wie möglich, um sie nicht zu erschrecken, und kniete wieder vor ihrem Sofa nieder. Er versuchte sie mit ihrem Namen anzusprechen, brachte aber nur ein heiseres Krächzen heraus. »Ist jetzt alles in Ordnung?«
Sie nickte nur einmal knapp.
»Mein Gott, ich habe deine Pille vergessen.« Er zog das kleine braune Plastikfläschchen unter einem der Sessel hervor. Anschließend holte er ein Glas Wasser aus der Küche und brachte es ihr. Sie inhalierte
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