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Eisnacht

Eisnacht

Titel: Eisnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Brown
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schwach dazu war, hatte sie mit einem Küchenmesser TIERNEY = BLUE in einen der Küchenschränke geschnitzt, weil sie glaubte, dass das wirksamer war als eine Notiz auf einem ihrer Scheckformulare, das in dem Tohuwabohu, das nach ihrer Entdeckung und dem Abtransport ihrer Leiche aus der Hütte einsetzen würde, leicht übersehen werden konnte.
    Tierney.
    Schon wenn sie den Namen dachte, zerriss ein Schluchzen ihre enge Brust. Sie war außer sich vor Zorn über ihre sträfliche Fahrlässigkeit. Höhnisch rief sie sich ins Gedächtnis, wie blauäugig sie an jenem Tag auf dem Fluss seiner seltenen Kombination von Naturbursche und Einfühlsamkeit auf den Leim gegangen war und wie sie sich die letzten Monate gegrämt hatte, weil sie die Gelegenheit, ihn noch einmal zu sehen, für Dutch geopfert hatte.
    Von Anfang an war ihr diese Kombination zu schön erschienen, um wahr zu sein.
    Merk dir das, Lilly. Was dir so erscheint, ist es meistens auch.
    Sie war ein bisschen alt für diese wertvolle Lektion, und bedauerlicherweise würde sie keine Gelegenheit mehr bekommen, sie auf ihr eigenes Leben anzuwenden, doch festhalten sollte sie das trotzdem, oder? Vielleicht hätte sie diese Erkenntnis ebenfalls ins Holz schnitzen sollen, so wie Gefangene an den Zellenwänden Nachrichten für zukünftige Insassen hinterlassen.
    Aber inzwischen war sie zu ermattet, um auch nur das Obstmesser zu halten. Immer wieder hatte sie unter Krämpfen Schleim ausgehustet, inzwischen war sie so schwach, dass sie nicht mehr aufrecht sitzen konnte. Sie hatte ihre Energien und vor allem ihre Zeit erschöpft.
    Einen Vorteil hatte das Sterben. Unergründliche Fragen würden endlich geklärt. Zum Beispiel wusste sie jetzt mit Sicherheit, dass man nicht in einem gleißenden hellen Sturmwind ins Leben nach dem Tode raste. Ganz im Gegenteil. Der Tod schlich langsam heran wie die Abenddämmerung. Ganz allmählich wurde es immer dunkler, das Blickfeld wurde kaum wahrnehmbar enger, bis nur noch ein Stecknadelkopf an Licht und Leben übrig war.
    Dann wurde auch das von der absoluten, allumfassenden Schwärze verschluckt.
    Verzweifelt suchte sie in der undurchdringlichen Dunkelheit nach Amy, aber sie konnte ihre Tochter nirgendwo sehen. Sie konnte überhaupt nichts sehen. Dafür wurde ihr Gehör geschärft und registrierte aus weiter Ferne eine Stimme.
    Es war ihr Daddy. Er rief sie, damit sie ihr Spiel in der Nachbarstraße beendete und nach Hause kam. »Lilly! Lilly!« Ich komme schon, Daddy.
    Sie sah ihn auf der Veranda stehen, die Hände um den Mund gelegt, und ängstlich nach ihr rufen, bis sie ihm antwortete und versicherte, dass sie auf dem Heimweg war. »Lilly!«
    Er hörte sich ängstlich an. Beklommen. Panisch. Hörte er sie denn nicht? Warum konnte er sie nicht hören? Sie antwortete doch schon.
    Ich komme schon, Daddy! Siehst du mich nicht? Hörst du mich nicht? Hier bin ich doch!
    »Lilly! Lilly!«
    Tierney beugte ihren Oberkörper über seinen Unterarm und klopfte ihr kräftig auf den Rücken. Ein fetter Schleimbatzen landete auf der Decke über ihrem Schoß. Er schlug ihr noch einmal zwischen die Schulterblätter und löste damit noch mehr Schleim, der ihr aus dem Mund tropfte. Als er sie losließ, fiel sie reglos auf das Sofa zurück, und ihr Kopf rollte kraftlos zur Seite.
    Er riss die Handschuhe von den Fingern, ohrfeigte sie und versuchte sich damit zu beruhigen, dass ihr Gesicht noch warm war. Seine Hand war kalt, nicht die graue Haut auf ihren Wangen.
    »Lilly!«
    Er schob die Hand in ihren Mantel, unter den Pullover und drückte die Handfläche an ihre Rippen. Als er ihr Herz schlagen spürte, entrang sich seiner wunden, ausgetrockneten Kehle ein heiserer Schrei.
    Hastig zog er den Reißverschluss der Jackentasche auf, in die er ihren Medikamentenbeutel gesteckt hatte. Es war ein grüner Seidenbeutel mit aufgestickten Kristallperlen, genau wie sie ihn beschrieben hatte. Als er ihn öffnete, fiel das Pillenfläschchen heraus und rollte außer Sichtweite, aber vorerst brauchte er nur die beiden Sprays. Er überflog die Aufschrift. Die Hinweise hätten genauso gut auf Griechisch geschrieben sein können.
    Das eine, rief er sich ihre Erklärung ins Gedächtnis, sollte Attacken vermeiden. Das andere linderte die Symptome, wenn ein Patient bereits eine Attacke hatte. Er wusste nur nicht, welches welches war.
    Kurzerhand schob er den einen kurzen Rüssel zwischen ihre blutleeren Lippen, bohrte ihn zwischen ihre Zähne und drückte auf den Behälter.

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