Eisnacht
mir«, stellte er brüsk fest und ging dann an ihr vorbei auf die Veranda. »Offenbar ist doch einer deiner Anrufe bei Dutch angekommen.« Er knallte die Tür hinter sich zu.
Lilly sank auf das Sofa. Sie schlotterte, war aber unsicher, ob sie sich vor Erleichterung oder Bestürzung so schwach fühlte. Falls er Blue war, war das eine gute Nachricht. Aber falls nicht, dann hatte sie einen Unschuldigen bezichtigt. »Laut Wetterbericht hört es heute Nacht auf zu schneien. Die Temperaturen bleiben deutlich unter dem Gefrierpunkt, aber die Wetterbedingungen sollen sich bessern.«
Er stapelte die neuen Scheite auf dem Kaminrand. Er klang locker und wenig betroffen. »Die Straßen werden noch tagelang unpassierbar bleiben, aber mit etwas Glück besteht eine winzige Chance, dass du morgen gerettet wirst.«
»Tierney…«
»Trotzdem müssen wir die Nacht noch überstehen«, unterbrach er sie barsch. Er drehte sich zu ihr um und klopfte seine Hände ab. »Das muss für dich eine schrecklich beängstigende Vorstellung sein.«
Er deutete auf den Rucksack unter dem Beistelltisch. »Pistole Handschellen, du weißt, wo du alles findest, wenn du es brauchen solltest. Jetzt, wo du deine Medizin und genug Feuerholz hast, könntest du auch allein durchhalten, bis Hilfe kommt.«
»Willst du wieder gehen?« Es verblüffte sie, wie sehr sie sich davor fürchtete, dass er sie allein lassen könnte.
Er schnaubte ein verbittertes Lachen. »Ich täte es gern. Aber jetzt, wo mein Name im Radio durchgegeben wurde, wird jeder Hinterwäldler mit seiner Schrotflinte Jagd auf mich machen. Mein Fell wäre die Jagdtrophäe der Saison, und in meinem augenblicklichen Zustand wäre ich leichte Beute.
Nein, du wirst mich nicht los, bevor ich mich ausgeruht und etwas gegessen habe. Aber ich will keinesfalls, dass du jedes Mal zurückzuckst, wenn ich in deine Nähe komme. Wenn du mich also wieder ans Bett ketten willst, komme ich widerspruchslos mit. Nicht gerade gern, aber ich werde mich nicht wehren.«
Sie zog den Kopf ein und sah zu Boden, erst auf ihre bestrumpften Füße und dann auf seine nackten Zehen, die unter dem nassen Saum der Jeans hervorsahen. Sie brauchte nicht lang, um eine Entscheidung zu fallen. »Das wird nicht notwendig sein, Tierney.«
»Du hast keine Angst mehr vor mir?« Sie sah ihn an und sagte schlicht: »Wenn du Blue wärst, wärst du nicht zurückgekommen.«
»Aber verstehst du nicht, Lilly, ich hätte so oder so zurückkommen müssen, um zu überleben. Da draußen wäre ich auf jeden Fall gestorben.«
»Aber du hättest mich nicht wiederbeleben müssen. Blue hätte mich sterben lassen.«
»Wo sollte da der Reiz sein? Dich sterben zu sehen wäre etwas anderes, als dir das Leben zu nehmen. Etwas ganz anderes.«
Sie studierte ihn lange und suchte in seinen Augen nach der Antwort auf die Fragen, denen er so gewandt mit Gegenfragen auswich, mit Schweigen oder Lügen oder indem er den Teufelsadvokaten spielte. Er war exzellent in diesem Spiel, aber sie hatte es satt.
Erschöpft sagte sie: »Ich weiß nicht, wer du bist, Tierney, oder was du vorhast, aber ich glaube nicht, dass du mich umbringen willst, weil ich sonst schon tot wäre.«
Er entspannte sich deutlich. Seine Miene wurde weich. »Du hast Recht, wenn du mir vertraust, Lilly.«
»Ich vertraue dir keineswegs. Aber du hast mir das Leben gerettet.«
»Ich schätze, das zählt.«
»Zumindest bewahrt es dich vor den Handschellen.«
»Aber es bringt uns nicht dorthin zurück, wo wir an dem Tag am Fluss waren. Was muss ich dafür tun? Wie kann ich uns dorthin zurückbringen, Lilly?«
Er rührte sich nicht. Sie sich genauso wenig. Und doch schien die Kluft zwischen ihnen schmaler zu werden, immer schmaler, bis ein rutschender Scheit auf dem Rost einen Funkenregen in den Abzug jagte und die eigenartige Stimmung vertrieb.
Er nickte zur Tür hin. »Es ist leichter, wenn du mir die Tür aufhältst.«
Sie stand an der Tür, während er noch mehrmals auf die Veranda ging, um Feuerholz zu holen. Beim letzten Gang nahm er einen Metalleimer mit nach draußen, den sie anfangs mit Trinkwasser gefüllt hatten und der inzwischen leer war.
Als er zurückkam, war der Eimer mit Schnee vollgepackt. »Ich muss unbedingt duschen.« Er kratzte mehrere heiße Kohlen unter dem Rost hervor auf die Umrandung des Kamins und stellte den Eimer darauf. Der Schnee begann in Windeseile zu schmelzen. »Leider werde ich mich mit einem Schwammbad begnügen müssen.«
»Schwammbad?«, fragte
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