Eisnacht
konnte, hatte mehrere Gründe. Das lange Nickerchen am Nachmittag. Das Feuer, das hinter ihren geschlossenen Lidern flackerte. Die unbequemen, festen Kleider und das Gewicht der vielen Decken. Die Erinnerungen an ihre Todesangst während der letzten Minuten ihrer Asthmaattacke.
Aber der Hauptgrund für ihre Schlaflosigkeit war Tierney, der nur eine Armeslänge von ihr entfernt lag. Seit er ihr eine gute Nacht gewünscht hatte, hatte er keinen Ton mehr von sich gegeben und sich nicht mehr gerührt, trotzdem wusste sie, dass er hellwach war und ihre Nähe genauso intensiv spürte wie sie seine.
Als er sich genau wie sie dem Feuer zudrehte, lag sie in qualvoller Erwartung einer Berührung, die nicht erfolgen sollte. Auch wenn es unmöglich schien, wuchs die Spannung zwischen ihnen mit jeder Sekunde, obwohl keiner von beiden einen Muskel rührte oder einen Laut von sich gab.
Gut eine Stunde nachdem sie sich verlegen »Gute Nacht« gewünscht hatten, begann er zu sprechen. Er fragte nicht erst flüsternd, ob sie wach war. Obwohl sie mit dem Rücken zu ihm lag, wusste er, dass sie nicht schlief, so wie sie wusste, dass er es nicht tat. Seine leise, tiefe Stimme überraschte sie nicht. Doch was er sagte, ließ ihr Herz stocken.
»Er hat dich geschlagen, stimmt's? Dutch. Er hat dich geschlagen.«
Sie schluckte, blieb aber ansonsten reglos. »Wer hat dir das erzählt?«
»Niemand. Aber nachdem ich ihn so lange beobachtet habe, liegt die Vermutung nahe. Manche Bullen stumpfen durch die ständige Gewalt ab. Irgendwann erscheint sie ihnen als ganz gewöhnliche Lösung für jedes Problem. Das gilt besonders für einen Menschen, der emotional gebrochen ist und zu viel trinkt.«
Sie sagte nichts darauf.
»Außerdem«, ergänzte er noch leiser, »glaube ich nicht, dass du deine Ehe aus einem geringeren Grund aufgegeben hättest.«
Sie hatte das nie jemandem erzählt, ihren Freundinnen und Kolleginnen nicht, die ihren emotionalen Aufruhr gespürt und sie gedrängt hatten, sie ins Vertrauen zu ziehen, nicht einmal ihrer Trauertherapeutin, vor der sie sich sonst rückhaltlos entblößt hatte. Tierney gab ihr das Gefühl, dass sie sich ihm anvertrauen konnte, schlicht weil er der einzige Mensch war, der sie so weit durchschaut hatte, dass er von selbst darauf gekommen war.
»Es war nur ein einziges Mal«, sagte sie ruhig. »Natürlich hatte er davor schon öfter die Fäuste gehoben, als wollte er mich schlagen. Ich warnte ihn, dass wir geschiedene Leute wären, wenn er jemals zuschlagen würde. Genau das habe ich ihm gesagt. Nein, genau das habe ich ihm geschworen.«
Sie schloss sekundenlang die Augen und holte tief Luft. Selbst jetzt fiel es ihr schwer, diese grauenvolle Nacht in ihr Gedächtnis zurückzurufen. »Entweder hat er mir nicht zugehört oder nicht geglaubt, oder er war zu betrunken, um sich an meine Warnung zu erinnern. Er kam damals sehr spät nach Hause. Er war streitlustig und aggressiv, ohne dass ich ihm Vorwürfe gemacht hatte. Auf einen Ehekrach aus.
Weil ich an dem Tag eine anstrengende Budgetsitzung hinter mir hatte, war ich völlig erschöpft. Statt mich auf einen unserer berüchtigten Ehekriege einzulassen, versuchte ich, ihm aus dem Weg zu gehen, aber das ließ er nicht zu. Er wollte mit mir streiten und würde erst Ruhe geben, wenn er es geschafft hatte.
Im Schlafzimmer trieb er mich schließlich in die Ecke. Er drängte mich im wahrsten Sinn des Wortes in eine Ecke und ließ mich nicht mehr hinaus. Er warf mir vor, ich sei schuld an Amys Tod. Ihr Gehirntumor sei Gottes Strafe dafür, dass ich nach meinem Mutterschaftsurlaub wieder arbeiten gegangen war, statt mit ihr zu Hause zu bleiben.«
»Das ist grotesk.«
Sie lachte freudlos. »Genau das habe ich auch gesagt. Mit denselben Worten. Dutch hat das persönlich genommen. Er schlug mich mit der Faust so fest ins Gesicht, dass ich gegen die Wand prallte. Ich schlug so hart mit dem Kopf auf, dass ich fast in Ohnmacht gefallen wäre. Ich sackte zu Boden und nahm die Hände über den Kopf.
Die ganze Zeit dachte ich immer nur: Das ist nicht wahr. Es kann nicht wahr sein, dass ich, Lilly Martin, in der Ecke kauere und die Hände über den Kopf halte, um mich vor meinem Ehemann zu schützen.
So was passiert Leuten, über die man in der Zeitung liest, dachte ich. Armen oder ungebildeten oder anders benachteiligten Menschen, die als Kinder Gewalt erleben mussten und den Kreislauf fortsetzen. Mein Vater hatte mich nie auch nur geohrfeigt und schon gar
Weitere Kostenlose Bücher