Eisnacht
Freund. Er hatte Hintergedanken, sonst wäre er nicht gekommen.
Dutchs Magen krampfte sich zusammen, sobald er sich Gedanken darüber machte, was der Grund für diesen Besuch sein mochte. Vielleicht sollte der Whiskey nur den Schmerz lindern. Falls ja, würde er den entscheidenden Schlag lieber früher als später einstecken. »Bist du gekommen, weil du mich feuern willst, Wes?« Wes' prustendes Lachen erschien ihm ehrlich. »Wie bitte?«
»Bist du das selbsternannte Komitee, das den Gemeinderat repräsentiert?«
»Mein Gott, Dutch. Du bist wirklich ein paranoider Hurensohn, weißt du das? Was bringt dich auf diesen abwegigen Gedanken?«
»Das, was du gestern Abend gesagt hast. Oder hast du das vergessen? Du hast mir vorgehalten, dass du dich weit aus dem Fenster gelehnt hättest, als du mich eingestellt hast. Du hast gesagt, dass es nicht gut für dich aussehen würde, wenn ich versage.«
»Ach Scheiße. Da waren wir müde und erschöpft. Unsere Nerven lagen blank. Du warst ein bisschen überdreht wegen Lilly und weil sie mit diesem Kerl in eurer Hütte hockt. Ich habe bloß als dein guter Freund versucht, die Dinge wieder etwas zurechtzurücken. Dich wieder aufs Gleis zu bringen. Aber, ganz ehrlich«, beeilte er sich zu sagen, als er merkte, dass Dutch ihn unterbrechen wollte, »nach dem heutigen Tag bin ich praktisch auf deiner Linie.« Dutch fixierte ihn argwöhnisch. »Wie meinst du das?« Wes sah kurz über die Schulter auf die geschlossene Tür. Dann beugte er sich vor und senkte die Stimme. »Du denkst doch genau wie ich - Scheiße, und wie die vom FBI -, dass Tierney unser Mann ist, oder? Er hat fünf Frauen entführt und weiß Gott was mit ihnen angestellt. Und diese Scheiße mit dem blauen Band? Wie krank ist das denn?«
Dutch nickte knapp, denn er war nicht gewillt, mehr preiszugeben, bevor er wusste, worauf Wes zusteuerte.
»Und deine Frau - das Ex können wir in diesem Fall übersehen - ist da oben mit ihm gefangen. Ich bewundere deine Selbstbeherrschung, Kumpel. Ganz ehrlich. Hätte ich heute in deiner Haut gesteckt, hätte ich jeden umgebracht, der versucht hätte, mich von diesem Berg fernzuhalten.«
»Das hätte ich um ein Haar auch getan.«
»Hawkins zählt nicht.«
Dutch nahm noch einen Schluck Whiskey. Mit jedem Schluck schmeckte der Whiskey weicher und besser. »Was willst du damit sagen, Wes?«
»Wir sollten uns Tierney schnappen. Du und ich.«
»Begley hat einen Hubschrauber…«
»Vergiss den«, sagte Wes ungeduldig. »Falls sie Tierney vor uns kriegen, werden wir ihn nie mehr zu sehen bekommen. Dann schaffen sie ihn direkt nach Charlotte und sperren ihn dort weg. Selbst wenn er unter Anklage gestellt wird, zögert sein Anwalt das Verfahren ewig hinaus, und wir versuchen in fünf Jahren immer noch, diesen Psychotiker vor Gericht zu bringen und Gerechtigkeit für die Frauen und ihre Familien zu bekommen. Bei uns in den Bergen gilt ein anderes Gesetz, ein Gesetz, an das schon unsere Väter und Großväter geglaubt haben.«
Wes' Argumente waren nicht von der Hand zu weisen. Dutch wusste aus seiner Zeit als Polizist in Atlanta, wie langsam Gerechtigkeit geschaffen wurde, wenn es überhaupt dazu kam.
»Ich habe sowieso nie begriffen, wieso sich das FBI für den Fall interessiert«, sagte Wes.
»Entführung ist ein Bundesverbrechen.«
»Schon, schon, aber das ist doch nur ein technisches Detail.«
»Aber ein entscheidendes.«
Wes rutschte nach vorn, bis er nur noch auf der Stuhlkante saß. Die Arme auf die Schreibtischfläche gestützt, beugte er sich vor. »Du bist hier verantwortlich, Dutch. Cleary ist deine Stadt, es sind deine Leute, und dir gebührt der Sieg. Nicht diesem Begley oder seinem halbblinden Lakaien.
Du musst Tierney über die Main Street schleifen, ihn den Gunns und den Verwandten der anderen Opfer präsentieren und ihn hier im Ort vor Gericht stellen, dann bist du ein echter Held. Dann bist du der unbeugsame ›Leg dich nicht mit mir oder meiner Stadt an‹-Bulle, der das größte Verbrechen in der Geschichte dieser Gegend aufgeklärt hat.« Er lehnte sich zurück und lächelte gefällig. »Und ich wäre der Ratsvorsitzende, der genug Hirn hatte, um dich einzustellen.«
Die aufmunternde Ansprache zeigte Wirkung. Wes hatte ein verlockendes Bild gezeichnet, in dessen Zentrum Dutch stand. Dutch wünschte sich so sehr, dass es Wirklichkeit wurde. Aber er war zu oft bitter enttäuscht worden, um dem aufflackernden Optimismus zu trauen, den er plötzlich spürte. Er
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