Eisnacht
getan?«
»Seine Lehrerin gevögelt, nehme ich an. Ich weiß es nicht.« Dora hatte wieder angefangen, auf und ab zu gehen, und rang nervös die Hände. »Sie sind der letzte Mensch, mit dem ich zusammen sein möchte. Ich will nur raus aus Ihrem Haus. Aber ich bin trotzdem gekommen, weil ich dachte, Sie könnten mir diese Nachricht erklären. Mir sagen, wo er steckt. Oder was so ›unverzeihlich‹ ist. Erzählen Sie mir alles«, schrie sie, und ihre Stimme überschlug sich beim letzten Wort.
Marilee las die Zeile noch einmal durch. »Vielleicht meint er damit unsere Affäre. Oder…« Sie brachte es nicht über sich auszusprechen, was dieser rätselhafte Verweis sonst bedeuten mochte.
»Meint er damit etwas, das er erst getan haben wird, wenn wir die Nachricht lesen, oder etwas, das er schon früher getan hat? Etwas, das wir ihm seiner Meinung nach nie verzeihen werden?«
»Ich weiß es nicht, und ich möchte nicht darüber spekulieren, Mrs Hamer.«
Dora sank mit dem Rücken gegen die Wand, schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. »Meint er damit, dass er sich umbringen will?«
Marilee las mit steigender Panik noch einmal. Die Nachricht klang tatsächlich wie ein Abschiedsbrief, obwohl Scott nirgendwo ausdrücklich sagte, dass er sein Leben beenden wollte.
Trotzdem war er schrecklich aufgewühlt, als er heute Morgen halb angezogen durch die Terrassentür aus ihrem Zimmer geflohen war. Sie konnte ihn nicht überreden zu bleiben, sosehr sie ihn auch angefleht hatte.
Er war aus ihrem Haus gestürzt und offenbar kurz nach Hause gelaufen, um diese Nachricht zu verfassen. Sie wusste nicht, wozu er sich entschlossen hatte, aber der Entschluss musste schnell gefasst worden sein. Dass die Entscheidung so überstürzt gekommen war, machte ihr schreckliche Angst. Er konnte nicht mehr klar oder rational denken. »Hat er irgendwas mitgenommen, als er verschwunden ist?«
»Weiß ich nicht.« Doras Antwort klang geistesabwesend, als wäre sie so in ihrem Elend gefangen, dass sie nicht mehr richtig zuhörte.
Marilee packte sie an den Schultern und rüttelte sie wach. »Hat zu Hause irgendwas gefehlt?«
»Was zum Beispiel?«
Zum Beispiel ein Gewehr. Bevor Marilee ihren Gedanken aussprechen konnte, klopfte jemand energisch an die Haustür. Beide Frauen schreckten hoch. Sie starrten die Tür sekundenlang mit geteilter, aber unausgesprochener Angst an.
Marilee nahm als Erste ihren Mut zusammen. Sie durchquerte den Raum und öffnete die Tür.
»Ms Ritt, wir haben schon gestern miteinander gesprochen.«
»Ich weiß. Special Agent Wise.«
»Genau, Madam. Und Special Agent in Charge Begley.«
»Kommen Sie herein.«
Sie trat beiseite und ließ die beiden FBI-Agenten in den Eingangsbereich treten. Als die Agenten Dora Hamer zusammengesunken an der Wand lehnen sahen, blieben sie kurz vor dem Wohnbereich stehen. Marilee musste Begley zugute halten, dass er so tat, als würde er nicht bemerken, wie aufgelöst Dora war , und sie begrüßte, als wäre er ihr auf einem Sektempfang über den Weg gelaufen. »Guten Morgen, Mrs Hamer.«
Ihre Augen waren weit vor Angst. Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen. »Sind Sie wegen Scott hier?«
»Scott? Nein.«
Wise spürte die Panik, die in der Luft lag. »Was ist denn los?«
Dora überließ Marilee die Antwort. »Nichts ist. Wieso sind Sie hier?«
»Ehrlich gesagt haben wir gehofft, Ihren Bruder zu Hause anzutreffen«, erwiderte Wise. »Im Drugstore waren wir schon. Dort ist niemand.«
Als der Name ihres Bruders fiel, spürte Marilee, wie sich die Muskeln in ihrem Gesicht verhärteten. Es war ihr immer noch unbegreiflich, wie er sie so verraten konnte. Dass es ihm solche Freude bereitete, so viele Menschen zu verletzen, war unvorstellbar.
Falls er sich wirklich um ihre moralischen Verfehlungen gesorgt hätte, hätte er sie privat zur Rede gestellt, ihr ihre Fehler vorgehalten, sie ermutigt, bei einem Psychologen oder Priester Hilfe zu suchen, oder ihr höchstens angedroht, sie bloßzustellen, falls sie ihre Affäre mit Scott nicht augenblicklich beendete.
Stattdessen hatte er sein Geheimnis gehütet, sie dabei mit Anspielungen geködert und gleichzeitig abgewartet, bis der Zeitpunkt gekommen war, an dem er den größtmöglichen Schaden anrichten und die größte Befriedigung daraus ziehen konnte, die Falle zuschnappen zu lassen. Der Gott, an den Marilee glaubte, würde Williams Bösartigkeit für eine schwerere Sünde halten als ihre Liebe zu Scott.
Die
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