Eisnacht
Höhlen traten. Ihr Mörder war ein grausamer und gnadenloser Mensch. Sie war nicht schnell gestorben. Sondern langsam und qualvoll.
Der Gedanke daran erfüllte Lilly mit Entsetzen, aber er festigte auch ihre Entschlossenheit, nicht als Tierneys nächstes Opfer zu enden.
Wo war er, und wie lang würde es dauern, bis er zurückkehrte? Wollte er Millicents Überreste beseitigen, bevor er zurückkam, um sich um sie zu kümmern? So oder so musste er sich beeilen. Ihm blieb nicht viel Zeit. Er hatte selbst gesagt, dass Dutch oder irgendwer heute versuchen würde, zu ihnen vorzustoßen. Wann, wann, wann?
Sie riss an den Handschellen, obwohl sie wusste, dass sie sich keinesfalls daraus befreien konnte. Wie sollte sie sich auch nur eine winzige Chance ausrechnen, nachdem das nicht einmal Tierney geschafft hatte? O Gott, hatte sie wirklich die wundgescheuerte Haut auf seinen Handgelenken geküsst und die Kratzer, die ihre Fingernägel auf seinem Handrücken hinterlassen hatten?
Sie durfte nicht mehr daran denken. Genauso wenig wie an alles andere, was sich in der dunklen Wärme unter den Decken abgespielt hatte. Das war letzte Nacht gewesen. Jetzt war heute. Sie würde nicht sterben, Punktum. Sie würde überleben.
Sie fasste nach oben, bis sie die Schrauben ertastete, mit denen die Metallstreben an der Unterseite der Theke befestigt waren. Wenn sie es schaffte, sie so weit zu lösen, dass sie die Verankerung aus dem Holz ziehen konnte, könnte sie zumindest die Handschellen herausziehen. Auch wenn ihre Hände dann noch gefesselt wären, konnte sie wenigstens fliehen.
Sie fingerte an den Schrauben herum. Kein einziger Kopf bewegte sich, aber sie zerrte trotzdem daran. Beim Versuch, sie herauszudrehen, brach sie ihre Fingernägel ab und riss sich die Fingerkuppen auf. Nach fünf Minuten musste sie sich eingestehen, dass es aussichtslos war. Sie konnte keine einzige Schraube lockern. Stattdessen hatte sie nur erreicht, dass sie kaum noch Luft bekam und dass ihre Finger bluteten.
Wenn sie keine andere Fluchtmöglichkeit fand - und ihr wollte keine mehr einfallen -, musste sie sich darauf verlassen, dass jemand sie retten kam. Was würde sich bis dahin abspielen?
Würde Tierney sie schnell töten und dann fliehen? Würde er sie als Geisel nehmen und versuchen, Bedingungen für seine Kapitulation auszuhandeln? Würde er, ob sie nun lebte oder tot war, versuchen, der Verhaftung zu entgehen und dabei niedergeschossen werden?
Würde sie ihm ins Gesicht sehen, während sie starb, und ihn mit Blicken anflehen, sie am Leben zu lassen, so wie ihre Blicke ihn letzte Nacht angefleht hatten, sie nach einem vierjährigen Trauerschlaf zu neuem Leben zu erwecken?
Oder würde sie ihn leblos in einer Schneewehe liegen sehen, die sich langsam rot färbte, während das Leben aus seinem Körper sickerte?
Sie konnte nicht sagen, welches dieser beiden Bilder sie zum Weinen brachte.
Aber die Tränen versiegten abrupt, als ihr Handy läutete.
»Verdammt noch mal!«, fluchte Dutch. »Bin auf der Mailbox gelandet. Warum geht sie nicht an ihr Handy?«
Die Fahrt auf den Berg dauerte länger als gedacht, und Dutch war mit seiner Geduld schon lange am Ende. Er wusste ungefähr, wie die Straße verlief, doch die Strecke war meterhoch zugeschneit und streckenweise vereist, wodurch jeder Meter zu einem gefährlichen Abenteuer wurde. Die, kurzen geraden Abschnitte waren genauso gefährlich wie die Haarnadelkurven. Er war ebenso wenig ein erfahrener Schneemobilfahrer wie Wes. Seiner Meinung nach waren es unzuverlässige und ungeschlachte Gefährte.
Die Skibrille hatte einen tiefen Abdruck in seiner aufgeschwemmten Gesichtshaut hinterlassen. Inzwischen war die Haut so aufgeschwollen, dass seine Nase auf einer Ebene mit seinen Wangen war. Einige Schnitte hatten zu eitern begonnen. Zwischendurch hatte er die Skibrille abgenommen, um den pochenden Schmerz zu lindern, aber die auf den Eiskristallen glitzernde Sonne hatte so in den Augen gestochen, dass er sie bald wieder aufgesetzt hatte.
Hier auf der Westflanke des Berges war der Wind viel stärker. Er peitschte den Schnee zu Eisderwischen hoch, denen sie nicht immer ausweichen konnten. Die Luft war unerträglich kalt, und nur die beheizten Griffe der Schneemobile verhinderten, dass ihnen die Finger abfroren. Da sie hintereinander fahren mussten, übernahmen sie abwechselnd die Führung.
Wes, der momentan vorausfuhr, hatte ihm ein Zeichen gegeben, dass er anhalten wollte. »Ich muss pissen.«
Dutch
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