Eisnacht
brach als Erste den Blickkontakt. Sie schaute auf das Handy, das zwischen ihnen auf dem Couchtisch lag. »Wenn Dutch meine Nachricht bekommen hat, wird er sich irgendwas einfallen lassen, um jemanden hier hochzuschicken.«
»Ich hätte das vorhin nicht fragen sollen. Ob ihr zusammen hier oben wart.«
Ihre Geste machte deutlich, dass er sich nicht zu entschuldigen brauchte.
»Ich würde nur gern wissen, wie viel du noch mit ihm zu tun hast, Lilly.«
Sie spielte mit dem Gedanken, ihm diese Information zu verwehren, beschloss dann aber, das Thema ein für alle Mal zu klären. Offenbar würde er es sonst immer wieder zur Sprache bringen. »Ich habe Dutch heute Abend angerufen, weil er Polizeichef ist, nicht weil er mein Exmann ist. Unsere Ehe wurde geschieden, aber er würde mich genauso wenig hier oben erfrieren lassen, wie ich ihn in einer lebensbedrohlichen Situation im Stich lassen würde. Falls es irgendwie möglich ist, wird er uns retten.«
»Dich wird er um jeden Preis retten«, sagte Tierney. »Bei mir bin ich nicht so sicher.«
»Wie kommst du darauf?«
»Er mag mich nicht.«
»Und wie kommst du darauf?«
»Es geht nicht darum, was er getan hätte. Sondern darum, was er nicht getan hat. Ich bin ihm ab und zu über den Weg gelaufen, und er hat sich nie die Mühe gemacht, sich vorzustellen.«
»Vielleicht kam ihm der Zeitpunkt nicht gelegen.«
»Nein, ich glaube, da steckt mehr dahinter.«
»Wie zum Beispiel?«
»Zum einen, dass ich ein Fremder bin, dem er sofort mit Misstrauen begegnet, weil nicht schon meine Urururgroßeltern in diesen Bergen gelebt haben.«
Sie musste lächelnd anerkennen, dass er die Einstellung, die in dieser Gegend vorherrschte, auf den Punkt gebracht hatte. »Die Menschen hier können ziemlich unzugänglich sein.«
»Ich bin nur ein Besucher, aber ich war inzwischen so oft hier, dass die Leute zumindest meinen Namen kennen und mit mir reden könnten. Mich begrüßen. So was. Aber wenn ich morgens meinen Kaffee an der Bar im Ritt's trinke, sitze ich immer allein an der Theke. Noch nie hat mich jemand eingeladen, zu dem Altherrenclub zu stoßen, der Morgen für Morgen die Sitznischen mit Beschlag belegt. Dutch Burton, Wes Hamer, ein paar andere, alles Einheimische. Eine geschlossene Clique. Nicht dass ich mich nach ihrer Gesellschaft sehnen würde, aber sie bringen nicht einmal ein ›Hallo‹ über die Lippen.«
»Dann möchte ich mich für sie entschuldigen.«
»Ehrlich, das ist nicht wichtig. Aber es gibt mir zu denken«, setzte er an und verstummte. »Inwiefern?«
»Das gibt mir zu denken, ob er mir aus dem Weg geht, weil du ihm vielleicht von mir erzählt hast.«
Sie zog den Kopf ein. »Nein. Gestern habe ich dich das erste Mal erwähnt.«
Weil er nichts darauf erwiderte, blieb es ihr nach ein paar langen Sekunden überlassen, das lastende Schweigen zu durchbrechen. »Es hat mich überrascht, dich in der Stadt zu sehen. Gibt es hier denn noch etwas, worüber du schreiben kannst?«
»Es sind nicht die journalistischen Themen, die mich hierherbringen, Lilly.«
Der Köder, den er ausgeworfen hatte, war gefährlich, aber verlockend und unwiderstehlich. Sie hob den Kopf und sah ihn an. Er sagte: »Ich habe einen Artikel über unseren Tag am Fluss verkauft.«
»Ich weiß. Ich habe ihn gelesen.«
»]a?« Es war unübersehbar, dass ihm das gefiel. Sie nickte. »Diese Wassersportzeitschrift und mein Magazin erscheinen im selben Verlag, darum bekomme ich immer ein Belegexemplar. Als ich das Heft durchblätterte, ist mir dein Name aufgefallen.« Ehrlich gesagt hatte sie dieses und ähnliche Hefte monatelang durchforstet, um festzustellen, ob er einen Artikel über die Kajakexkursion geschrieben und veröffentlicht hatte.
»Ein exzellenter Artikel, Tierney.«
»Danke.«
»Das meine ich ernst. Die Beschreibungen waren lebendig. Man konnte spüren, wie aufregend die Tour für uns war. Und ein Titel, der sofort neugierig macht: ›Die stürmische Franzosenbraut‹.«
Er grinste. »Ich dachte, das würde die Unwissenden fesseln. Man muss den Artikel lesen, um zu erfahren, dass der Fluss übersetzt so heißt.«
»Es ist gute Arbeit.«
»Es war ein guter Tag«, gab er leise und mit gefühlsbeladener Stimme zurück.
Anfang Juni im letzten Sommer. Zwei Dutzend Teilnehmer hatten sich zu dem eintägigen Kajaktrip angemeldet. Sie hatten sich in dem Bus getroffen, der die Gruppe mehrere Meilen flussaufwärtstransportierte, von wo aus die wilde Fahrt durch mehrere Stromschnellen
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