Eisnacht
aufgestanden und hatte sich auf den Weg bergab in die Werkstatt im Ort gemacht. Heim kehrte er erst zum Abendessen, das er mechanisch verspeiste. Wenn er direkt gefragt wurde, knurrte er eine Antwort, sonst hatte er nichts zu sagen, was nicht nach Kritik oder Tadel klang. Nach dem Essen nahm er ein Bad und verschwand dann im Schlafzimmer, wo er die Tür hinter sich zuzog, um seine Familie auszuschließen.
Marilee hatte nie erlebt, dass er an irgendetwas Freude gefunden hätte - außer an dem Gemüsegarten, den er jeden Sommer neu anlegte. Der war sein ganzer Stolz. Als sie sieben Jahre alt war, erwischte ihr Vater ihren Streichelhasen dabei, wie er an einem Kohlkopf knabberte. Er drehte dem Tier vor ihren Augen den Hals um und befahl ihrer Mutter, es zum Abendessen zu braten. Marilee hatte es als späte Gerechtigkeit empfunden, dass er ausgerechnet beim Jäten im Zwiebelbeet von einer Herzattacke dahingerafft wurde.
Ihre Mutter war ein hypochondrisches Jammerweib gewesen und hatte ihren Mann hinter dessen Rücken als ungehobelten Hinterwäldler beschimpft. Vierzig Jahre lang sorgte sie dafür, dass jeder wusste, wie tief unter ihrem Stand sie geheiratet hatte. Ihr ganzes Leben drehte sich um ihr eigenes Leid, weshalb alles andere ausgeschlossen blieb.
Als ihre Gesundheit so nachließ, dass sie praktisch ans Bett gefesselt war, hatte Marilee ein Urlaubssemester an der Cleary Highschool eingelegt, um ihre Mutter zu pflegen. Eines Morgens versuchte Marilee ihre Mutter zu wecken und entdeckte dass sie im Schlaf gestorben war. Als der Geistliche ihr später mit Plattitüden Trost spenden wollte, konnte Marilee nur denken, dass eine so verbitterte und egomanische Frau wie ihre Mutter es nicht verdient hatte, so friedlich aus der Welt zu scheiden.
Die beiden Kinder dieser emotionalen Krüppel mussten schon früh lernen, allein zurechtzukommen. Ihr Elternhaus hatte sich auf der anderen Seite des Cleary Peak befunden, weit weg vom Ort und weitab von jenen Vierteln, in denen die Kinder zusammen spielten. Weil ihren Eltern jede soziale Kompetenz fehlte, konnten sie weder ihr noch William welche beibringen. Beide Kinder mussten sich mühsam in der Schule aneignen, wie andere Menschen miteinander umgingen.
William war ein guter Schüler, der sich der Wissenschaft verschrieben hatte. Seine Bemühungen wurden mit hervorragenden Noten und Sonderpreisen belohnt. Er versuchte mit der gleichen Entschlossenheit, Freunde zu finden, aber seine übereifrigen Bemühungen zeigten gewöhnlich den entgegengesetzten Effekt.
Marilee hatte die Zuwendung, die sie im wahren Leben vermisste, in den Büchern gefunden. Nachdem William mehrere Jahre älter war, hatte er zuerst lesen gelernt. Sie hatte ihn bedrängt, es ihr beizubringen, und daraufhin im Alter von fünf Jahren bereits Bücher gelesen, die für einige Erwachsene zu hoch waren.
Abgesehen von den Jahren im College hatten sie und William zeitlebens unter einem Dach gelebt. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte William beschlossen, dass es Zeit war, in den Ort zu ziehen. Er kam überhaupt nicht auf den Gedanken, dass Marilee andere Pläne haben könnte. Genauso wenig wie sie auf den Gedanken kam, sich von ihm zu lösen. Im Gegenteil, sie war begeistert über die Aussicht, das düstere, traurige Heim am Berg zu verlassen, das so viele unglückliche Erinnerungen barg.
Sie kauften ein kleines, adrettes Haus in einer ruhigen Seitenstraße. Marilee verwandelte es in ein gemütliches Heim voller Licht, Farben und Pflanzen, die es in ihrem Elternhaus nie gegeben hatte.
Aber nachdem der letzte Vorhang aufgehängt und das letzte Zimmer eingerichtet war, hatte sie sich umgesehen und erkannt, dass sich außer ihrer Umgebung gar nichts verändert hatte. Ihr Leben hatte keine aufregende neue Wendung genommen. Das tägliche Einerlei war jetzt farbenfroher und hübsch dekoriert, aber es blieb ein tägliches Einerlei.
Den Familiensitz auf dem Berg hätte sie am liebsten verkauft oder verfallen lassen, bis ihn die Wildnis zurückerobert hatte. Aber William hatte etwas anderes damit vor.
»Bis der Sturm vorüber ist, wirst du nicht am Haus weiterarbeiten können«, bemerkte sie jetzt, während sie den Tisch mit einem feuchten Lappen abwischte und die letzten Maisbrotkrümel in die offene Hand fegte.
Hinter der Zeitung hervor antwortete er: »Stimmt. Vielleicht wird es Tage dauern, bis die Hauptstraße wieder befahrbar ist. Und die kleine Nebenstraße hoch zum Haus wird noch später geräumt
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