Eisnacht
Sie suchte verlegen nach den Autoschlüsseln. »Danke, Tierney, aber ich muss ablehnen.«
»Ach. Und wie sieht es morgen aus?«
»Tut mir leid, da kann ich auch nicht.« Sie holte tief Luft und sah zu ihm auf. »Da bin ich mit meinem Mann zum Abendessen verabredet.«
Sein Lächeln erstarb nicht, es brach in sich zusammen. »Du bist verheiratet.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Sie nickte.
Sein Blick senkte sich auf ihren nackten Ringfinger. Seine Miene, eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Enttäuschung, sprach Bände.
Dann sahen sie sich eine Ewigkeit nur an, sagten nichts und kommunizierten nur mit Blicken, während sich die untergehende Sonne durch die Laubbäume stahl und ihre unglücklichen Mienen mit den Schatten der Blätter tüpfelte.
Schließlich hielt sie ihm die Hand hin. »Es war wirklich nett mit dir, Tierney.« Er nahm sie. »Mit dir auch.«
»Ich werde nach deinen Artikeln Ausschau halten«, sagte sie und stieg ein. »Lilly…«
»Mach's gut. Pass auf dich auf.« Eilig zog sie die Autotür zu und fuhr ab, ehe er noch mehr sagen konnte.
Seither hatten sie sich nicht mehr gesehen - bis gestern, als sie ihn auf der anderen Straßenseite der Main Street in Cleary entdeckt hatte. Dutch war von hinten auf sie geprallt, weil sie so unvermittelt stehen geblieben war. »Was schaust du?«
Tierney wollte gerade in seinen Cherokee steigen, als er zufällig in ihre Richtung sah. Er erstarrte. Dann sahen sie sich an, und die Welt blieb stehen.
»Ben Tierney«, beantwortete sie gedankenverloren Dutchs Frage. Vielleicht hatte sie aber auch nur den Namen laut ausgesprochen, der ihr während der vergangenen acht Monate im Kopf herumgegeistert war.
Dutch folgte ihrem Blick über die Fahrbahn und den Mittelstreifen hinweg. Tierney stand immer noch da, mit einem Fuß im Wagen, und sah sie an, als warte er auf ein Zeichen, was er jetzt tun sollte. »Du kennst den Typen?«, fragte Dutch. »Ich bin ihm letzten Sommer begegnet. Kannst du dich noch erinnern, dass ich einen Tag beim Kajakfahren war? Er war in meiner Gruppe.«
Dutch drückte die Tür zu der Anwaltskanzlei auf, in der sie einen Termin hatten, um den Verkauf der Hütte abzuschließen. »Wir sind spät dran«, sagte er und schob sie hinein.
Als sie eine halbe Stunde später auf den Bürgersteig traten, merkte sie, dass sie heimlich auf der Main Street nach dem schwarzen Cherokee Ausschau hielt. Sie hätte Tierney gern wenigstens begrüßt, aber von ihm oder seinem Auto war weit und breit nichts zu sehen. Trotzdem merkte sie jetzt, da er nur einen Meter von ihr entfernt saß, wie schwer es ihr fiel, ihn anzusehen oder etwas zu sagen.
Weil sie seinen Blick spürte, sah sie zu ihm hinüber. »Ich habe nach dem Tag am Fluss ein paar Mal in deinem Büro in Atlanta angerufen.«
»Deine Artikel sind nichts für meine Leserinnen.«
»Ich habe nicht angerufen, um einen Artikel unterzubringen.«
Sie wandte den Kopf ab und schaute in den leeren Kamin. Seit sie am Morgen die Asche herausgefegt hatte, schien eine Ewigkeit vergangen zu sein. Leise sagte sie: »Ich weiß, warum du angerufen hast. Und genau deshalb konnte ich die Anrufe nicht annehmen. Aus dem gleichen Grund, aus dem ich nach dem Kajakfahren nicht mit dir ausgehen konnte. Ich war verheiratet.«
Er stand auf, kam um den Couchtisch herum und setzte sich direkt neben sie aufs Sofa, sodass sie ihn ansehen musste. »Jetzt bist du nicht mehr verheiratet.«
William Ritt lächelte zu seiner Schwester auf, die seinen leeren Teller abräumte. »Danke, Marilee. Das Stew war ausgezeichnet.«
»Freut mich, dass es dir geschmeckt hat.«
»Ich spiele mit dem Gedanken, im Drugstore ein Tagesgericht anzubieten. An jedem Tag der Woche etwas anderes. Mittwochs Hackbraten. Freitags Krabbenpastete. Wärst du bereit, Linda dein Stewrezept zu verraten, Marilee?«
»Es ist Mutters Rezept.«
»Ach so. Na schön, aber ich glaube nicht, dass es sie noch stören wird, wenn du es weitergibst, oder?«
Für einen Unbeteiligten mochte das brüsk klingen, aber Marilee wusste, warum William so unsensibel reagierte, und konnte es ihm nicht verübeln. Ihre Eltern waren beide gestorben, aber es war kein tragischer Verlust. Der eine war komplett gleichgültig gewesen, die andere egoistisch. Für beide war es eine vollkommen absurde Vorstellung gewesen, ihre Nachkommen mit Liebe und Zuneigung zu erziehen.
Ihr Vater war ein strenger, schweigsamer Mann gewesen. Von Beruf Mechaniker, war er jeden Morgen vor Tagesanbruch
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