Eisnacht
fröhliches Lachen war nur aufgesetzt. »Soll ich mich jetzt geschmeichelt fühlen oder beleidigt sein? Warum glaubst du nicht, dass du mit einer einfühlsameren Methode Erfolg haben könntest?«
»Weil auf dich keine Regel zutrifft, Lilly.«
»Und warum?«
»Weil du zu klug und zu schön bist.«
»Ich bin nicht schön. Vielleicht attraktiv, aber nicht schön.«
»O doch. Das war mein erster Gedanke, als du damals in den Bus gestiegen bist.«
Sie war ein paar Minuten zu spät gekommen und als Letzte eingestiegen, erinnerte sie sich. Drinnen hatte sie vor allen anderen gestanden und nach einem freien Platz Ausschau gehalten. Tierney hatte in der dritten Reihe am Fenster gesessen. Der Sitz neben ihm war frei. Ihre Blicke hatten sich getroffen. Sie hatte sein Lächeln erwidert, aber seine stumme Einladung, neben ihm Platz zu nehmen, ausgeschlagen. Stattdessen war sie an ihm vorbeigegangen und hatte sich auf den Platz am Gang in der Reihe dahinter gesetzt.
Die Türen schlossen sich, und der Bus fuhr los. Ihr Führer stellte sich in den Gang und hieß alle willkommen. Er hielt einen zehnminütigen Routinevortrag über die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen und darüber, was sie während ihres Tages auf dem French Broad River erwartete. Seine Witze waren eher lahm, aber sie lachte trotzdem höflich, genau wie Tierney.
Als der Führer seine launige Ansprache beendet und hinter dem Fahrer Platz genommen hatte, begannen sich die Teilnehmer miteinander zu unterhalten. Tierney drehte sich zu ihr um.
Ich bin Ben Tierney.
Lilly Martin.
Freut mich, Sie kennen zu lernen, Lilly Martin.
»Du hast toll ausgesehen«, sagte er.
Sie wusste, dass sie das Thema fallen lassen sollte. Es verstieß gegen die von ihr gesetzten Grundregeln, dass sie sich auf praktische Fragen beschränken und die Situation nicht mit persönlichen Erinnerungen belasten sollten. Aber die Frau in ihr wollte unbedingt hören, was er zu sagen hatte.
Sie sah ihn zweifelnd an. »In meinem Kanu-Outfit?«
»Noch nie haben schwarze Leggins so gut ausgesehen.«
»Das ist gelogen, aber trotzdem vielen Dank.«
»Du hast dich mit deinem Mädchennamen vorgestellt. Erst bei meinem nächsten Ausflug nach Cleary habe ich erfahren, dass die Lilly Martin, die ich auf dem Ausflug kennen gelernt habe, in Wahrheit Mrs Burton hieß und die getrennt lebende Gemahlin von Dutch Burton, dem neu ernannten Polizeichef, war.«
»Im Berufsleben verwende ich meinen Mädchennamen. Nachdem ich die Scheidung beantragt hatte, habe ich nur noch ihn verwendet. Wer hat dir erzählt, dass Dutch und ich verheiratet sind?«
»Ein alter Mann namens Gus Elmer. Kennst du ihn?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Er ist der Besitzer des Motels, in dem ich immer wohne, wenn ich in der Gegend bin. Eine echtes Original. Immer ganz wild darauf, mit seinen Gästen zu plaudern. Also habe ich ihn ganz unauffällig gefragt, ob er eine Lilly Martin kennt, die hier in der Gegend eine Berghütte besitzt.«
»Und bekamst daraufhin alles brühwarm erzählt.«
Er lächelte schief. »Falls Gus irgendwelche Skrupel hatte, aus dem Nähkästchen zu plaudern, haben sich die im Whiskynebel verflüchtigt. Als die Flasche leer war, wusste ich das Wichtigste über dich und Amys Tod. Das erklärte vieles.«
»Was denn?«
Er musste seine Antwort erst bedenken. »An dem Tag auf dem Fluss war mir aufgefallen, dass du beim Lachen jedes Mal unvermittelt verstummt bist, so als hättest du dich selbst ertappt. Abrupt. Das Lächeln erstarb. Das Funkeln in deinen Augen erlosch.
Damals machte mir das schwer zu schaffen. Ich fragte mich, warum du jedes Mal einen Schalter umzulegen schienst, um auf keinen Fall Spaß zu haben. So als hättest du kein Recht, dich zu vergnügen, als wäre es unrecht, Freude am Leben zu empfinden.«
»Genauso ist es, Tierney.«
»Du hast ein schlechtes Gewissen, wenn du dich vergnügst, weil Amy tot ist und du noch lebst.«
»So sieht es jedenfalls meine Trauertherapeutin, ja.«
Es war fast beklemmend, wie gut er sie verstand. Er schien zu spüren, was sie in den verborgensten Winkeln ihres Herzens versteckte. Offenbar konnte er vom ersten Tag an ihre Gedanken lesen. Es war schön, offen über Amy sprechen zu können, aber es irritierte Lilly, dass Tierney sie so durchschaute.
Er ließ sich neben ihr auf dem Kaminrand nieder. »Als du mir heute Abend mit deinen eigenen Worten von Amys Tod erzähltest, habe ich in dir wieder die Trauer gespürt, die mir schon damals am Fluss aufgefallen
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