Eisnacht
Teller auf dem Boden ab und wickelte den Schal von ihrem Hals, um ihn dann wegzuschleudern.
Er sah sie stirnrunzelnd an. »Sollte das eine Beleidigung sein?«
»Du könntest ihn als Waffe benutzen.«
»Dich zu erwürgen wäre nicht besonders schlau, oder? Dann wärst du tot und ich wäre mit Handschellen ans Bett gefesselt.«
»Ich gehe lieber kein Risiko ein.«
»Warum hattest du meinen Schal an?«
»Kannst du aus der Tasse trinken?«
»Ich werde es versuchen. Ich kann aber nicht versprechen, dass ich nicht sabbere. Warum hattest du meinen Schal an?«
»Damit mir warm bleibt, Tierney. Aus keinem anderen Grund. Nicht weil ich mit dir gehen will.«
Sie drückte den Becher in seine Hände. Er faltete die Finger darum, senkte dann den Kopf und nahm einen Schluck. »Wahrscheinlich ist es ganz gut, dass ich meine Hände nicht tiefer festgemacht habe. Sonst könnte ich nicht trinken oder essen.«
»Ich würde dich trotzdem nicht verdursten oder verhungern lassen.«
»Du bist eine gute Kerkermeisterin, Lilly. Du stehst nicht auf grausame oder ungewöhnliche Bestrafungen. Obwohl.« Er wartete ab, bis er sicher war, dass er ihre volle Aufmerksamkeit hatte. »Es verdammt grausam wäre, wenn du mir wegsterben würdest.«
»Das habe ich nicht vor.«
»Dann pass auf dich auf.«
Sie hörte den Nachdruck in seiner Stimme. Und sah ihn in seinem Blick. Sie widerstand beidem. »Bereit für deine Cracker?«
»Erst trinke ich meinen Kaffee aus.«
Sie wich zurück und ließ sich in sicherer Entfernung vom Bett in einem Schaukelstuhl nieder, wo sie mit abgewandtem Kopf sitzen blieb.
»Hat Dutch oft mit dir über die vermissten Frauen gesprochen?«
Die Frage überraschte sie, und sie sah ihn scharf an.
»Bestimmt hat er dir von dem blauen Band und von ihrem Internen Namen ›Blue‹ erzählt.«
»Ich habe ihn nie ausdrücklich gebeten, mir von seinen Fällen zu erzählen, aber ich habe zugehört, wenn er es getan hat.«
»Was hat er dir sonst noch über die Frauen erzählt, die in Cleary verschwunden sind?«
Sie reagierte mit einem kühlen, abweisenden Blick.
»Komm schon, Lilly. Wenn du wirklich überzeugt bist, dass ich Blue bin, dann wirst du mir nichts verraten, was ich nicht schon weiß. Wusste Dutch, was das blaue Samtband zu bedeuten hat?«
»Für Blue, meinst du?«
Er nickte.
»Er hatte eine Theorie.«
»Und welche?«
Sie war unschlüssig, ob sie mit Tierney darüber sprechen sollte, was sie über die Fälle wusste. Aber falls sie es tat, würde sie eventuell etwas Wichtiges erfahren. »Torrie Lambert, die erste Vermisste, ist die Einzige, die nicht aus der Gegend kommt.«
»Sie machte mit ihren Eltern Urlaub in Cleary«. sagte er. »Die drei waren auf einer begleiteten Wanderung durch den Herbstwald. Sie stritt sich mit ihrer Mutter. Wie bei einer Fünfzehnjährigen nicht anders zu erwarten, stakste das Mädchen schmollend davon. Sie wurde nie wieder gesehen.«
»Ganz genau.«
»Sieh mich nicht so an. Lilly. Ich kam wenig später nach Cleary. Die Geschichte machte wochenlang Schlagzeilen. Ich habe genau wie jeder andere die Artikel gelesen. Was ich dir gerade erzählt habe, hätte dir jeder erzählen können. Was meint Dutch zu dem Band?«
»Mehr haben sie nicht von ihr gefunden«, sagte Lilly. »Die anderen Wanderer in ihrer Gruppe, ihre Eltern eingeschlossen, glaubten, dass Torrie sie bald wieder einholen würde. Als sie nicht auftauchte, begannen sie, sich Sorgen zu machen. Bei Anbruch der Nacht gerieten sie in Panik. Nach vierundzwanzig Stunden kamen sie zu dem Schluss, dass das keine pubertäre Trotzreaktion mehr war. dass sie sich nicht absichtlich versteckt hielt. Entweder hatte sie sich verletzt und den Rückweg nicht geschafft, oder sie hatte sich schrecklich verlaufen, oder sie war entführt worden.«
»Die Suchmannschaften durchkämmten wochenlang das Gelände, aber in dem Jahr setzte der Winter früh ein«, setzte er ihre Geschichte fort. »Das Mädchen…«
»Hör auf, sie ›das Mädchen‹ zu nennen«, fuhr sie ihn gehässig an. »Sie heißt Torrie Lambert.«
»Torrie Lambert blieb verschwunden, als hätte sich der Boden aufgetan und sie verschluckt. Man fand keine Spur von ihr.«
»Bis auf ein blaues Samtband«, korrigierte Lilly. »Das wurde im Unterholz gefunden. Jenseits der Staatsgrenze in Tennessee.«
»Und von da an nahmen die Behörden an, dass sie entführt worden war. Um zu dem Punkt zu gelangen, an dem das Band gefunden wurde, hätte sie mindestens zehn Meilen durch
Weitere Kostenlose Bücher