Eisnacht
Antwort. Sie wollte so gern glauben, dass er genau der war, der zu sein er vorgab: ein charmanter, talentierter, intelligenter, lustiger, einfühlsamer Mann. Keine dieser Eigenschaften schloss jedoch aus, dass er Verbrechen beging, denen Frauen zum Opfer fielen. Im Gegenteil, diese Eigenschaften wären ihm dabei nur nützlich.
Die Handschellen hatte er immer noch nicht erklärt. Wozu waren sie nützlich, wenn man nicht gerade auf SM-Spielchen stand oder Polizist war? Ihr wurde übel, wenn sie darüber nur spekulierte. »Millicent Gunn wurde vor einer Woche vermisst gemeldet.«
»Ich weiß.«
»Lebt sie noch, Tierney?«
»Ich weiß es nicht. Woher soll ich das wissen?«
»Wenn du sie entführt hast…«
»Habe ich aber nicht.«
»Ich glaube doch. Ich glaube, nur darum hattest du ein blaues Band und ein Paar Handschellen in deinem Rucksack.«
»Was hast du eigentlich in meinem Rucksack zu suchen?«
Sie ging gar nicht darauf ein. »Als du gestern Abend auf dem Gipfel warst, wolltest du etwas erledigen, das getan werden musste, bevor der Sturm einsetzte. Wolltest du vielleicht die Leiche beseitigen? Millicents Grab ausheben?«
Wieder schien sich die Haut über seinen Wangen zu straffen. »Glaubst du wirklich, nachdem du gestern Nacht keine zwei Schritte von mir entfernt geschlafen hast, dass ich nur Stunden zuvor ein Grab ausgehoben habe?«
Sie packte die Waffe fester, denn sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, wie falsch sie die Lage gestern Abend eingeschätzt hatte. »Heb die Handschellen auf.«
Er zögerte, bückte sich dann und hob sie auf.
»Leg erst den Reif um deine rechte Hand.«
»Du machst einen furchtbaren Fehler.«
»Wenn ja, dann wirst du einen ungemütlichen Nachmittag verbringen und stinksauer auf mich sein. Wenn ich Recht habe und du wirklich Blue bist, rette ich damit mein Leben. Vor diese Wahl gestellt, ziehe ich es vor, dass du stinksauer auf mich bist.« Sie hob die Pistole an. »Leg die Handschelle um dein rechtes Handgelenk. Sofort.«
Sekunden verstrichen. Schließlich gab er sich geschlagen. »Hast du den Schlüssel zur Hand, falls die Hütte Feuer fangen sollte oder du einen Asthmaanfall bekommst?«
»In meiner Tasche. Aber ich werde dich erst befreien, wenn Hilfe eingetroffen ist.«
»Was Tage dauern kann. Kannst du so lange ohne deine Medikamente überleben?«
»Das lass meine Sorge sein.«
»Ich mache mir aber Sorgen um dich, verflucht noch mal.« Seine Stimme klang plötzlich hart und rauchig. »Es ist mir nicht egal, wie es dir geht, Lilly. Ich dachte, das hätte ich mit meinem Kuss deutlich gemacht.«
Ihr Herz kam ein paar Schläge lang ins Stolpern, aber sie ignorierte das Flattern in ihrer Brust. »Setz dich auf den Bettkasten, und steck den rechten Arm durch die Eisenstäbe am Kopfende.« Das auf dem stabilen Holzrahmen festgeschraubte, dekorative schmiedeeiserne Kopfende war so geformt, dass er leicht hindurchfassen konnte. »Als ich dich geküsst habe…«
»Ich will nicht darüber sprechen.«
»Warum nicht?«
»Setz dich aufs Bett, Tierney.«
»Der Kuss hat dich genauso berührt wie mich.«
»Ich warne dich, wenn du nicht…«
»Weil er deutlich mehr getan hat, als nur deine Neugier zu stillen. Ich habe so lange davon geträumt, dich zu küssen, aber es…«
»Aufs Bett.«
»Es war millionenfach besser als jede Phantasie.«
»Das ist die letzte Warnung.«
»Ich werde mich nicht an dieses Bett fesseln lassen!«, rief er wütend.
»Und ich werde dich nicht noch mal auffordern.«
»Gestern Nacht hast du lange wach gelegen, nicht wahr? Ich weiß, dass du wach warst. Und du wusstest, dass ich es war. Wir dachten beide über dasselbe nach. Über den Kuss und den Wunsch…«
»Halt den Mund, oder ich schieße!«
»…wir hätten da nicht aufgehört.«
Sie zog durch. Die Kugel schlug in die Wand und jagte dabei so dicht an seinem Kopf vorbei, dass er den Luftzug gespürt haben musste. Er wirkte eher erschrocken als verängstigt.
»Ich bin gut«, versicherte sie ihm. »Der nächste Schuss trifft.«
»Du würdest mich nicht umbringen.«
»Wenn ich deine Kniescheibe zerschieße, wirst du dir wünschen, ich hätte dich umgebracht. Setz dich aufs Bett«, wiederholte sie, jedes Wort einzeln betonend.
Mit neu gewonnener Ehrfurcht wich er zurück, bis seine Waden den Bettkasten berührten. Er setzte sich und rutschte nach hinten. Sie wusste, dass die Schmerzen, unter denen er das Gesicht verzog, echt waren, aber sie ließ sich nicht erweichen. Als er das
Weitere Kostenlose Bücher