Eisnacht
war kein gewöhnlicher Kuss.«
Sie wusste, dass sie eigentlich sofort jeden Kontakt mit ihm unterbinden sollte. Ihre Ohren zustopfen. Ihm auf keinen Fall in die Augen sehen. Doch er hielt sie in seinem Bann, als hätte er sie mit einem Zauberspruch belegt.
»Du kannst das abstreiten, solange du willst, Lilly, du weißt genau, dass ich die Wahrheit sage. Das hat nicht erst gestern Abend angefangen. Sondern in dem Augenblick, in dem du in den Bus gestiegen bist. Seither wollte ich dich jede Sekunde jedes Tages unter meinen Händen spüren.«
Sie versuchte das warme Ziehen in ihrem Unterleib zu ignorieren. »So machst du das also.«
»Was?«
»Bequatschst du die Frauen, bis sie ohne Zögern mit dir gehen?«
»Hältst du das für Bequatschen?«
»Ja.«
»Leere Phrasen, um dich rumzukriegen?«
»Genau.«
»Damit du die Handschellen aufschließt und ich über dich herfallen kann?«
»So ungefähr.«
»Dann erklär mir, warum ich mich gestern mit einem Kuss begnügt habe.«
Seine Augen hielten ihre gefangen, während er auf die Antwort wartete, die er nie erhalten sollte.
Schließlich sagte er: »Ich habe mich damit begnügt, weil ich die Situation nicht ausnutzen wollte. Wir waren in Gefahr. Vom Rest der Menschheit abgeschnitten. Wir hatten über Amy gesprochen. Du warst emotional angegriffen, verwundbar, du brauchtest Trost und Zärtlichkeit.
Außerdem waren wir gierig aufeinander. Ich wusste genau, wohin es führen würde, wenn wir uns länger geküsst hätten. Und ich wusste, dass du es hinterher möglicherweise bereuen oder dass du meine Motive anzweifeln würdest. Ich wollte nicht, dass du dir hinterher Gewissensbisse machst, Lilly. Nur darum habe ich mich nicht zu dir auf die Matratze gelegt.«
Er klang aufrichtig. O Gott, tat er das nicht immer? »Was für ein Opfer, Sankt Tierney.«
»Nein.« Seine Augen bohrten sich wie mit glühenden Nadelspitzen in ihre. »Wenn du mich gefragt hättest, ob ich dich ficken würde, hätte ich es sofort getan.«
Sie holte so abrupt Luft, dass ihre Lungen pfiffen. »Du bist wirklich gut, Tierney.« Ihre Stimme war nur noch ein Krächzen, und das kam nicht allein vom Asthma. »Erst ganz süß, und dann erotisch. Du weißt immer, was du sagen musst.«
»Schließ die Handschellen auf, Lilly«, flüsterte er.
»Fick dich.«
Letzte Nacht hatte ihr Überleben davon abgehangen, dass sie ihm vertraute.
Heute hing es davon ab, dass sie ihm misstraute.
Kapitel 18
Was soll der Scheiß, Wes?«
»Mach halblang und denk kurz nach, bevor du in die Luft gehst.« Wes stellte sich zu Dutch vor den elektrischen Heizlüfter. Er bewirkte kaum etwas in der höhlenartigen Garage, doch die glühend roten Spiralen vermittelten wenigstens das Gefühl, dass man die alles durchdringende Kälte abwehren konnte, solange man davor stehen blieb. Das Gefühl trog. Der Zementboden leitete die Kälte durch die dicken Stiefelsohlen und die Wollsocken direkt in Dutchs Füße und Beine.
Er stampfte mit den Füßen auf, um das Blut in Bewegung zu bringen. Außerdem stampfte er vor Ungeduld auf. Seit sie hier angekommen waren, steckte Cal Hawkins auf der Toilette. Als Dutch das letzte Mal nach ihm gesehen hatte, hatte er immer noch mit dem Kopf über der schmierigen Kloschüssel gehangen.
»Sie wären dir sowieso gefolgt«, meinte Wes über die zwei FBI-Agenten, die ihm in ihrem Wagen zur Werkstatt nachgefahren waren. Sie saßen immer noch bei laufendem Motor in ihrer Limousine. Die dicke Qualmwolke, die vom Auspuff aufstieg, sah für Dutch aus wie der Atem eines wilden Tieres, das ihm auf den Fersen war.
»Dieser Begley ist genauso scharf auf Tierney wie du«, fuhr Wes fort. »Warum lädst du ihnen nicht einen Teil der Verantwortung auf, statt ganz allein den Berg zu stürmen?«
Dutch gab es nur ungern zu, aber das klang vernünftig. Falls da oben irgendwas Schlimmes passierte - falls Tierney zum Beispiel tödlich verletzt wurde, während er zu fliehen versuchte würden Ermittlungen angestellt, ein Untersuchungsausschuss eingesetzt und er mit Fluten von Formularen überschwemmt. Warum sollten die Typen vom FBI nicht auch was davon haben?
»Wenn das nicht klappt«, sagte Wes mit einem Nicken zu Hawkins hin, der gerade aus der Toilette zurückkam und aussah wie eine wandelnde Leiche, »können dir die vom FBI mit Hubschraubern, ausgebildeten Rettungsteams, Hightech-Spürgeräten und dem ganzen Kram aushelfen.«
»Wenn ich sie einspanne, bin ich nur noch ihr Handlanger«, widersprach Dutch.
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