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Eisnacht

Eisnacht

Titel: Eisnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Brown
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als könnte er außerhalb des Wagens besser begreifen, wie es dazu gekommen war.
    Er konnte hören, wie der Laster bergab pflügte. Einem ohrenbetäubenden Krachen folgte ein Geräusch wie ein metallisches Seufzen, so als würde der Laster seinen letzten Atemzug aushauchen. Danach folgte ein gespenstisches Schweigen, das noch grauenvoller war. Die Stille war so vollkommen, dass Wes hörte, wie die Schneeflocken auf seinen Kleidern landeten.
    Die Ruhe wurde von Begley und Wise durchbrochen, die sich so schnell näherten, wie es die rutschige Bergstraße zuließ. Sie hatten so weit hinter Wes gehalten, dass sie deutlich weniger mitbekommen hatten als er. Begley kam als Erster bei ihm an, schnaufend und Dampfwolken ausstoßend. »Was ist passiert?«
    »Sie sind abgestürzt.«
    »Heilige Scheiße.«
    Begley schalt Hoot nicht einmal für seinen geflüsterten Fluch, denn in diesem Augenblick hörten alle drei ein neues Geräusch, eines, das sie nicht identifizieren konnten, aber das eindeutig eine Fortsetzung der Katastrophe ankündigte.
    Sie sahen sich der Reihe nach fragend an.
    Später kamen sie zu dem Schluss, dass sie das Splittern von Holz gehört hatten. Bäume, die drei erwachsene Männer nicht umfassen konnten, waren umgeknickt wie Zahnstocher. Nur konnten sie das in dem Schneetreiben nicht sehen.
    Wes sprach für alle drei: »Was ist da los, verfluchte Scheiße?«
    Dann sahen sie es aus den tiefen Wölken, dem Schnee und Nebel herabsinken, der Erde entgegen wie ein landendes Raumschiff mit immer noch blinkendem rotem Licht. Der Hochspannungsmast schlug mit einer solchen Wucht auf dem Boden auf, dass selbst der tiefe Schnee den Schlag nicht abbremste. Später beschwor Wes jedem, dem er den bizarren Vorfall schilderte, dass sein Auto durch die Wucht des Aufpralls mit allen vier Rädern in die Luft geschleudert worden sei.
    Er und die beiden FBI-Agenten standen sekundenlang in sprachlosem Staunen da, unfähig zu begreifen, was sie eben beobachtet hatten, unfähig zu glauben, dass sie überlebt hatten. Wäre der Mast dreißig Meter näher umgestürzt, hätte er sie unter sich begraben.
    Was aus Dutch geworden war, wusste niemand. Wes konnte nur hoffen, dass er und Hawkins überlebt hatten. Ein weiteres Opfer war jedenfalls die Mountain Laurel Road. Sie lag unter tonnenschweren Stahlträgern und entwurzelten Bäumen begraben, die eine haushohe Straßensperre bildeten. Über diese Straße kam niemand mehr bergauf.
    Und sie war genauso unpassierbar für jeden, der bergab wollte.

Kapitel 19
    Lilly schob einen weiteren dicken Ast zu denen, die bereits auf dem Kaminrost glühten. Sie hatte mit dem Holz gegeizt, die Äste einzeln verfeuert und sie erst auf den Rost gelegt, wenn das Feuer auszugehen drohte.
    Trotz ihrer Sparsamkeit war der Holzvorrat, den sie ins Haus getragen hatte, bis auf ein paar Späne aufgebraucht, die sie von den dicken Klötzen abgehauen hatte. Wenn sie das Holz weiter in diesem Tempo verfeuerte, müsste es noch zwei Stunden reichen.
    Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte, wenn es verbraucht war. Selbst in der Hütte würde sie ohne Feuer in der kommenden Nacht wahrscheinlich erfrieren. Sie brauchte um jeden Preis ein Feuer zum Überleben. Aber - und darin lag die Ironie - die Anstrengung, die es kosten würde, mehr Feuerholz ins Haus zu tragen, würde sie wahrscheinlich umbringen.
    »Lilly?«
    Sie zog die Lippen zwischen die Zähne, kniff die Augen zu und wünschte sich, sie könnte ihre Ohren ebenso effektiv verschließen. Seine Stimme war zu überzeugend, seine Argumente waren zu vernünftig. Wenn sie sich davon umstimmen ließ, würde sie als Opfer Nummer sechs enden.
    Sich mit ihm zu streiten, kostete sie zusätzliche Kraft. Sie bewegten sich immer nur im Kreis, ohne einen Schritt weiterzukommen. Sie würde ihn auf keinen Fall losbinden; er hatte ein ganzes Arsenal an Argumenten, warum sie genau das tun sollte. Und dann war da dieses Pfeifen. Weil es beim Reden nur schlimmer wurde, hatte sie irgendwann aufgehört, ihm zu antworten.
    »Lilly, sag was. Wenn du noch bei Bewusstsein bist, musst du mich hören können.«
    Sein Tonfall war, angeheizt von ihrer Weigerung, ihm zu antworten, immer gereizter geworden. Sie stand von ihrem Sitzplatz am Feuer auf, trat ans Wohnzimmerfenster und schaute im Vorbeigehen durch die offene Schlafzimmertür. »Warum hältst du nicht den Mund?«
    Sie schob die Vorhänge beiseite und sah in der Hoffnung, dass der Schneefall nachgelassen hatte, nach draußen.

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