Eisnacht
läuft die Zeit davon.«
»Vielleicht werden wir gerettet…«
»Vor morgen kommt garantiert niemand den Pass herauf. Und morgen wahrscheinlich auch nicht. Wenn du auf eine rambomäßige Rettungsaktion mit dem Helikopter hoffst, dann hoffst du vergeblich. Nicht einmal der tapferste Pilot würde in so einem Sturm starten und riskieren, vom Wind zu Boden geschleudert zu werden oder gegen einen Berg zu prallen, den er im Schnee nicht sehen kann.«
»Irgendwie…«
»Das wird nicht passieren«, sagte er noch schroffer als zuvor. »Vielleicht bist du bereit, dein Leben aufs Spiel zu setzen, aber ich bin es nicht. Hol den Schlüssel her.«
»Sie könnten… zu Fuß kommen.«
»Niemand ist so verrückt.«
»Außer dir.«
Das brachte ihn zum Schweigen, aber nur für wenige Sekunden. »Richtig. Außer mir. Ich würde jedes Risiko eingehen, damit du am Leben bleibst. Ich will dich nicht sterben sehen, Lilly.«
»Mir gefällt… der Gedanke… auch nicht.«
»Mach mich los.«
»Ich… kann nicht.«
Seine Lippen wurden weiß vor Wut. »Ich werde dir sagen, was du nicht kannst. Du kannst es dir nicht leisten, mich an diesem verdammten Bett angekettet zu lassen. Jede Sekunde, die wir mit Streiten verbringen, kostet dich Zeit und Kraft, die du nicht hast. Also hol verdammt noch mal den Schlüssel und schließ diese;…«
»Nein!«
»…beschissenen Handschellen auf!«
Das Licht erlosch.
Dora Hamer näherte sich der Tür zu Scotts Zimmer. Seit seine Stereoanlage nicht mehr die Wände vibrieren ließ, erschien ihr das Haus unheilvoll still. Sie klopfte zweimal an. »Scott, ist alles okay?«
Er öffnete die Tür, als hätte er sie erwartet. »Schon, abgesehen davon, dass der Strom ausgefallen ist.«
»Ich glaube, er ist in der ganzen Stadt ausgefallen. Auch bei den Nachbarn brennt nirgendwo ein Licht. Ist es hier drin warm genug?«
»Ich habe noch einen Pullover angezogen.«
»Das hilft vielleicht vorübergehend, aber das Haus wird bestimmt schnell auskühlen. Bis wir wieder Strom haben, müssen wir mit dem Kamm heizen. Würdest du bitte Holz aus der Garage holen?«
»Klar, Mom.«
»Und bring die Laterne mit, die ihr mitnehmt, wenn du mit Vater zum Campen gehst. Haben wir noch Spiritus dafür?«
»Ich glaube schon. Ich schau mal nach.« Er verschwand am anderen Ende des Flurs. Dora folgte ihm ein Stück und kehrte dann hastig in sein Zimmer zurück. Die Bewerbungsformulare fürs College lagen verstreut auf seinem Schreibtisch. Sie nahm sich nicht die Zeit, sie durchzulesen, doch ein flüchtiger Blick darauf zeigte ihr, dass er, wie von Wes gewünscht, daran gearbeitet hatte.
Schnell trat sie ans erste Fenster und prüfte nach, ob der Fühler der Alarmanlage intakt war. Zwei Magnete, einer am Fensterflügel, der andere am Rahmen, bildeten eine Verbindung, die bei der kleinsten Unterbrechung die Alarmanlage auslösten, vorausgesetzt, sie war eingeschaltet. Die Komponenten waren vorschriftsmäßig angebracht. Das traf auch auf das zweite Fenster zu.
Weil sie nicht beim Schnüffeln erwischt werden wollte, hielt sie kurz inne und lauschte.
Sie hörte Scott Scheite gegen die Steinwand des Kamins im Wohnzimmer stapeln. Dann hörte sie, wie er die Hände abklopfte und wieder in die Garage ging, um die nächste Ladung zu holen.
Sie ging weiter zum dritten Fenster. Auch hier bildeten die zwei Magnete eine Verbindung. Doch der am Fensterrahmen war ein gewöhnlicher Magnet, ein Kinderspielzeug. Er ersetzte den abgelösten Magneten der Alarmanlage und war so angebracht, dass keine Verbindung unterbrochen wurde, wenn jemand das Fenster öffnete.
»Mom?«
Dora schreckte zusammen, als hätte sie etwas Verbotenes getan. Sie eilte aus Scotts Zimmer ins Wohnzimmer und hoffte gleichzeitig, dass sie gefasster aussah, als sie sich fühlte.
»Soll ich auch noch Holz auf den Kaminrand stapeln?«
»Gute Idee. Dann brauchst du später keines zu holen.«
»Okay. Soll ich die Laterne anzünden?«
»Die sollten wir für abends aufsparen.«
»Der Kerosinkanister ist praktisch randvoll. Ich lasse ihn mit der Laterne in der Küche.«
»Sehr gut. Bis zum Einbruch der Dunkelheit können wir uns mit Kerzen behelfen. Außerdem haben wir genügend Batterien für die Taschenlampen.«
Sie folgte ihm bis zur Küche, wo er durch die Tür zur Garage verschwand. Am liebsten wäre sie ihm nachgelaufen, hätte die Arme um ihn geschlungen und ihn an sich gedrückt. Wes warf ihr vor, sie würde ihren Sohn wie ein Baby behandeln. Und wenn schon?
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