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Eisnacht

Eisnacht

Titel: Eisnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Brown
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deine Alte gesagt habe, ob sie gerettet werden will oder nicht, ich wollte dich ehrlich nicht sauer machen. Ich hab nur gefragt.«
    »Lilly geht nur mich etwas an.«
    Hawkins murmelte halblaut etwas, das wie: »Nicht mehr, nein«, klang, aber Dutch ging nicht darauf ein, weil Cal objektiv gesehen Recht hatte. Außerdem näherten sie sich bereits der zweiten Haarnadelkurve, an der sie gestern Abend gescheitert waren. Er wollte, dass sich Hawkins ganz und gar auf die Kehre konzentrierte.
    Cal schaltete einen Gang nach unten, und dabei fiel Dutch auf, dass Cals Hände zitterten. Vielleicht hätte er Hawkins einen Schluck aus der Whiskeyflasche genehmigen sollen. Er wusste aus seinen eigenen Trinkerzeiten, dass manchmal ein winziger Schluck eine zitternde Hand zur Ruhe bringen konnte. Aber dafür war es jetzt zu spät. Hawkins ging schon in die Kurve.
    Er versuchte es wenigstens.
    Die Vorderräder folgten dem Kommando des Lenkrades. Sie schlugen rechts ein. Der Laster nicht. Er fuhr weiter geradeaus und hielt unbeirrt auf den Abgrund zu, der mindestens dreißig Meter tief war, wie Dutch wusste.
    »Schlag ein!«
    »Tu ich doch!«
    Als die Baumwipfel groß und bedrohlich vor der Windschutzscheibe aufragten, schrie Hawkins auf und stieg unwillkürlich mit beiden Beinen auf die Bremse und die Feststellbremse, während er gleichzeitig das Lenkrad losließ und die Unterarme vors Gesicht hielt.
    Dutch konnte nichts tun, um den schlitternden Lkw aufzuhalten. Der vorn angebrachte Schneepflug knallte auf die Leitplanke, die unter dem tonnenschweren Aufprall einknickte und zerbarst. Die Vorderräder rutschten über die Kante und schienen sekundenlang in der Luft zu hängen, bevor der ganze Laster bergab kippte.
    Dutch musste an den Film »Duell« denken, in dem in der entscheidenden Szene ein Sattelschlepper vom Highway abkommt und einen Berghang hinunterrast. Die Sequenz war in Zeitlupe gefilmt worden. Genauso fühlte er sich jetzt - als würde er den unausweichlichen Sturz in quälend langsamer Zeitlupe beobachten und durchleben.
    Er sah nur noch verschwommen. Die Konturen verliefen ineinander. Dafür waren die Geräusche von einer brutalen Klarheit. Das Zerplatzen der Windschutzscheibe. Das Rumpeln der Felsen unter der Karosserie. Das Knacken der Äste. Das Reißen des Metalls. Hawkins' panische Schreie. Sein eigenes tiergleiches, ungläubiges und hoffnungsloses Gebrüll.
    Im Nachhinein betrachtet retteten ihnen die Bäume wahrscheinlich das Leben, indem sie den Truck bremsten. Wäre der Abhang nicht so dicht bewachsen gewesen, wäre der Sturz wesentlich rasanter und daher tödlich gewesen. Nach einer gefühlten Ewigkeit rammte der Pflug mit gehirnerschütternder Wucht gegen ein unbewegliches Objekt. Die Trägheit schleuderte sie vorwärts, obwohl sie nicht mehr weiterkamen. Der Truck gab sich geschlagen und kam bebend zum Stehen.
    Wie durch ein Wunder war Dutchs Gehirn durch den Aufprall nicht zu Mus zerquetscht worden. Er war bei Bewusstsein und begriff überrascht, dass er am Leben und nicht einmal schwer verletzt war. Offenbar hatte Hawkins ebenfalls überlebt. Dutch konnte ihn mitleiderregend maunzen hören.
    Dutch schnallte den Sicherheitsgurt ab, drückte mit der Schulter gegen die Beifahrertür und schob sie auf. Er rollte sich hinaus und landete einen guten Meter tiefer im Schnee, der ihm, als er sich wieder aufrichtete, bis an die Hüfte reichte.
    Er versuchte sich zu orientieren, wurde aber von dem windgepeitschten Schnee geblendet, der genau in seine Augen zu jagen schien. Er konnte nicht einmal sehen, was den Laster abgebremst hatte. Er erkannte nicht mehr als einen Wald aus schwarzen Bäumen vor einem blendend weißen Hintergrund.
    Er brauchte es aber auch nicht zu sehen.
    Denn er konnte es hören.
    Er spürte das Beben im Boden, in dem Baumstamm, an den er sich gelehnt hatte, um nicht umzufallen, und in seinen Eiern.
    Er machte sich nicht die Mühe, Hawkins durch einen Ruf zu warnen oder ihn aus dem Autowrack zu ziehen. Er unternahm nicht einmal den Versuch, selbst davonzulaufen und sich zu retten. Dass er so kläglich gescheitert war, hatte ihm alle Kraft geraubt und jede Bewegung unmöglich gemacht.
    Dieser Augenblick war der absolute Tiefpunkt eines total verpfuschten Lebens. Er konnte genauso gut hier und jetzt sterben, denn nun war jede Hoffnung, Lilly zu erreichen, zunichte.
    Wes beobachtete ungläubig, wie der Streulaster im Abgrund verschwand.
    Er sprang aus dem Auto und blieb in der offenen Tür stehen,

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